von
Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup
Stand: April 2006
Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V (DVBS)
Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.
Mit freundlicher Unterstützung von NOVARTIS ophthalmics
Durch das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 S. 2GG wurde ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet. Artikel 3 Abs. 3 S. 2 GG lautet: "(3)… Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.".
Auch in den Landesverfassungen wurden Benachteiligungsverbote normiert. Z. T. wurde in Landesverfassungen sogar die Förderung behinderter Menschen als Programmsatz aufgenommen. So lautet z. B. Art. 118a der Verfassung des Freistaates Bayern:
"Artikel 118a Gleichheit vor dem Gesetz
Menschen mit Behinderungen dürfen
nicht benachteiligt werden. Der Staat setzt sich für gleichwertige
Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung ein."
Diese Verfassungsbestimmungen gewähren zwar Abwehrrechte, aber keine einklagbaren Rechtsansprüche.
Der Umsetzung in die einfach gesetzliche Ebene und damit der Förderung eines Selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen dienen das Bundesgleichstellungsgesetz und die Gleichstellungsgesetze der Länder, das SGB IX mit seinen Teilhaberechten und zahlreiche weitere Rechtsbestimmungen.
Um die Rechtsstellung behinderter und insbesondere blinder bzw. sehbehinderter Menschen behandeln zu können, müssen zunächst diese Begriffe geklärt werden. In diesem Heft werden deshalb die Begriffe Behinderung, Blindheit, wesentliche und hochgradige Sehbehinderung erläutert. Sodann wird auf die Feststellung der Behinderung, die Auswirkung dieser Statusfeststellung und den Schwerbehindertenausweis eingegangen. Anschließend werden die Gleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder behandelt.
Für das Sozialrecht ist der Begriff der "Behinderung" von zentraler Bedeutung. Er ist in § 2 SGB IX festgelegt. Dieser lautet:
"§ 2 Behinderung
(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 2 (SGB IX) schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben."
Zunächst fällt auf, dass in Abs. 2 von "Schwerbehinderten" die Rede ist. Die hier getroffenen weiteren Anforderungen sind für Hilfen nach Teil 2 des SGB IX (Schwerbehindertenrecht), insbesondere für den besonderen Schutz im Arbeitsleben, von Bedeutung. Vgl. dazu Heft 05.
Der Begriff der Behinderung, wie er in Abs. 1 beschrieben ist, folgt der international anerkannten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1980. Danach wird die Behinderung aus drei miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Faktoren (dreigliedriger Behinderungsbegriff) abgeleitet: Den Ausgangspunkt bildet ein gesundheitlicher Schaden, welcher im internationalen Sprachgebrauch der WHO als "Impairment" bezeichnet wird. Darunter ist jeder Verlust oder jede Abnormität psychologischer, physiologischer oder anatomischer Strukturen oder Funktionen zu verstehen. Zweiter Faktor ist eine Funktionsbeeinträchtigung (Disability) als Folge dieses Schadens, also jede Einschränkung oder jeder Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, welche für einen Menschen als normal angesehen werden'. Drittes Kriterium der Behinderung im Sinne dieser Definition bildet die soziale Beeinträchtigung (Handicap), mit welcher die jeweiligen Auswirkungen von Schaden und Funktionsbeeinträchtigung umschrieben werden. Hierunter fallen zunächst persönliche Folgen im Hinblick auf Unabhängigkeit, Beweglichkeit, Freizeitaktivitäten, Integrationsfähigkeit sowie wirtschaftliche und berufliche Möglichkeiten des Betroffenen. Daneben werden auch familiäre Folgen wie Pflegebedarf, gestörte familiäre Beziehungen und wirtschaftliche Belastungen für die Familie erfasst. Schließlich bezieht sich das Handicap auch auf gesellschaftliche Folgen wie Fürsorgebedürftigkeit und insbesondere auch Störungen der sozialen Eingliederung
Dieser Behindertenbegriff war und ist weiterhin Gegenstand eingehender Diskussionen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 2001 den Behinderungsbegriff in der ICIDH-2 (International Classification of Functioning, Disability and Health) weiterentwickelt und wie folgt neu gefasst:
Unter Berücksichtigung der Diskussion um die Weiterentwicklung der "Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF) der Weltgesundheitsorganisation ist dabei auf die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Partizipation) abzustellen. Dieser Behindertenbegriff wird zwar häufig als zu defizitär beanstandet. Auf eine Anknüpfung an gesundheitliche Beeinträchtigungen sollte aber auch künftig nicht verzichtet werden.
Eine Beeinträchtigung wird erst dann als Behinderung betrachtet, wenn sie voraussichtlich länger als 6 Monate andauern wird.
Eine Form der Schwerbehinderung ist die Blindheit.
Unter Blindheit wird nicht nur Lichtlosigkeit (Amaurose) verstanden. Vielmehr müssen auch weitere Sehbeeinträchtigungen berücksichtigt werden, die in ihrer Auswirkung der Lichtlosigkeit gleichzuachten sind. In der Wissenschaft haben sich verschiedene Definitionen für die Blindheit herausgebildet, die jeweils vom Zweck her bestimmt worden sind. So wird für den sonderpädagogischen Förderbedarf von einem pädagogischen Blindheitsbegriff gesprochen. Auf die Beeinträchtigung im Bereich der Orientierung geht der Begriff der "Orientierungsblindheit" zurück (zu den verschiedenen Blindheitsbegriffen und ihre Entwicklung vgl. Demmel: Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung S. 212 ff.).
Vor allem im Zusammenhang mit dem Sozialrecht war es notwendig, einen "juristischen Blindheitsbegriff" zu entwickeln. Nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), dem Teil 2 des neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz (EStG) sowie dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) muss die Frage beantwortet werden, ob Blindheit vorliegt. Der Begriff ist besonders für das Blindengeldrecht im SGB 12 und in den Landesblindengeldgesetzen von Bedeutung.
Eine gesetzliche Bestimmung enthält § 72 Abs. 5. SGB 12. § 72 SGB 12 regelt die Blindenhilfe nach dem Sozialhilferecht (vgl. H. 6 dieser Schriftenreihe).
§ 72 Abs. 5 lautet: "(5) Blinden Menschen stehen Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als ein Fünfzigstel beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen.".
Hier wird nur gesagt, welche Sehbeeinträchtigungen der Blindheit gleichzuachten sind. Damit wird, ohne das zum Ausdruck zu bringen, von der Blindheit als Lichtlosigkeit ausgegangen.
In den Landesblindengeldgesetzen wird entweder auf diese Bestimmung verwiesen oder sie enthalten eigene, inhaltlich gleiche Definitionen.
Es handelt sich um medizinische Merkmale. Um zu einer einheitlichen Beurteilung zu kommen, werden für die Feststellung der Blindheit die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Stand 2004, (hrsg. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) herangezogen.
Der Begriff der Blindheit wird in Nr. 23 der AHP wie folgt definiert:
Blind ist der behinderte Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch der behinderte Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe (siehe Nummer 26.4) auf keinem Auge und auch nicht bei beidäugiger Prüfung mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzuachten sind.
Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 (1/50) oder weniger gleichzusetzende Sehbehinderung liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (siehe auch AHP Nummer 26.4) bei folgenden Fallgruppen vor:
Blind ist auch der behinderte Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen.
Wichtige Merkmale sind also die Sehschärfe und das Gesichtsfeld. Die Sehschärfe wird dabei in einem Bruch angegeben. Eine Sehschärfe von 1/50 besagt, dass zwei Punkte in einem Abstand von 50 Winkelminuten erkannt werden. Bei einer Sehschärfe von 1/10 werden zwei Punkte in einem Abstand von 10 Winkelminuten erkannt. Vergröbernd ausgedrückt kann man auch sagen: Wer über eine Sehschärfe von 1/50 verfügt, kann Gegenstände erst in einem Abstand von 1 M. sehen, die bei normaler Sehschärfe in einem Abstand von 50 M. erkannt werden.
Bei der Beurteilung, ob Blindheit vorliegt, dürfen jedoch nicht nur die Sehschärfe und die Gesichtsfeldeinschränkung herangezogen werden. Vielmehr müssen "alle Störungen des Sehvermögens" Berücksichtigung finden. So sind neben den Funktionen des Sehorgans nachweisbare Reizerscheinungen, Tränenträufeln, Empfindlichkeit gegen äußere Einwirkungen (Licht, Staub, Chemikalien usw.) sowie sonstige Erkrankungen des Auges und seiner Umgebung zu beachten. Das bedeutet, dass beim Vorliegen solcher Störungen selbst beim Überschreiten der oben angegebenen Werte Blindheit bejaht werden kann. Es muss jedoch eine Störung der Sehfunktion vorliegen.
Eine der schwierigsten Fragen ist, ob Blindheit beim Vorliegen einer optischen Agnosie gegeben sein kann. Blindheit kann nur angenommen werden, wenn die Sehbeeinträchtigung auf einem Defekt des optischen Apparates beruht bzw. in der Verarbeitung optischer Reize ihre Ursache hat. Andere hirnorganische Störungen sind nicht zu berücksichtigen.
Weil der Sehapparat aus Auge, Sehnerven und Sebzentrum der Gehirnrinde besteht, wird bei vollständigem Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit) übereinstimmend Blindheit bejaht. Die "Rindenblindheit" ist die Folge einer Schädigung der primären Sehrinde in dem Hinterhauptlappen des Gehirns, wie er z. B. nach beidseitigem arteriellem Verschluss der arteria cerebri posterior vorkommt.
Die Frage ist, inwieweit Blinden auch Personen gleichgestellt werden können, die bei erhaltener optischer Funktion visuelle Reize nicht oder nur ungenügend verwerten können, wenn also eine "optische Agnosie" vorliegt. Nach Nr. 23 (4) AHP soll Blindheit bei Personen "mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen" nicht gegeben sein (s. o.). Dem Ausschluss der Berücksichtigung jeder Form der optischen Agnosie bei der Beurteilung, ob Blindheit zu bejahen ist, kann nicht zugestimmt werden. Ausschlaggebend muss sein, ob das trotz eines, zumindest teilweisen intakten Sehapparates, Wahrgenommene erkannt werden kann (Erkennungsstörung) oder ob ein Gegenstand zwar wahrgenommen, aber nur nicht richtig identifiziert, also benannt werden kann (Benennungsstörung). Das Sehen besteht aus wahrnehmen und erkennen. Wenn Wahrgenommenes nicht erkannt wird, kann nicht angemessen reagiert werden. Wenn z.B. ein Hindernis in einem Weg nicht als Hindernis erkannt wird, kann nicht ausgewichen werden. Wird demgegenüber ein Hindernis wahrgenommen, aber der Betroffene kann aufgrund einer geistigen Störung nicht identifizieren, ob es sich z. B. um einen Stuhl oder einen Tisch handelt, welcher im Weg steht, und welchem er ausweichen will, dann handelt es sich um eine Benennungsstörung. Eine angemessene Reaktion, nämlich das Ausweichen, ist möglich. Blindheit liegt nicht vor. Diese Auffassung entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Das BSG hat in seinem Urteil vom 31. 01. 1995 - 1 RS 1/93 - (SozR 3-5920 § 1 Nr. 1), das zu § 1 Abs. 3 Nr. 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 (saarländisches Blindengeldgesetz) ergangen ist, entschieden, dass ein Anspruch auf Blindenhilfe auch dann bestehe, also Blindheit vorliege, wenn Störungen des Sehvermögens, z. B. infolge einer Optikusschädigung, mit cerebralen visuellen Verarbeitungsstörungen in einer Weise zusammenwirken, dass die Störung des Sehvermögens in ihrem Schweregrad insgesamt einer Sehschärfenbeeinträchtigung im Sinn von § 1 Abs. 3 Nr. 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 (nicht mehr als 1/50) gleichzuachten ist. In einem solchen Fall liegt "faktische" Blindheit vor. Zu weiteren Einzelheiten und Hinweisen auf die Rechtsprechung vgl. Demmel: Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung S. 222 ff.
Unter einer "nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens", wie es in § 72 Abs. 5 SGB 12 heißt, wird ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten verstanden. Dieser Zeitraum muss für die Feststellung der Blindheit oder Sehbehinderung nicht erst abgewartet werden. Es genügt vielmehr, wenn die Behinderung nach der medizinischen Erfahrung "mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate" andauert (vgl. SGB 9 § 2 Abs. 1).
Zur Befunderhebung wird in den AHP Nr. 8 (15) bestimmt:
"(15) Für die Beurteilung der Sehbehinderung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe (Prüfung mit Gläsern) maßgebend. Die Sehschärfe ist grundsätzlich nach DIN 58220 zu prüfen, in Ausnahmefällen (z.B. bei Bettlägerigkeit oder Kleinkindern) ist analog zu verfahren. Die übrigen Partialfunktionen des Sehvermögens sind nur mit Geräten und Methoden zu prüfen, die den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) entsprechend eine einwandfreie gutachtliche Beurteilung erlauben. Bei der Gesichtsfeldbestimmung dürfen nur Ergebnisse der manuell-kinetischen Perimetrie entsprechend der Marke Goldmann III/4 verwertet werden.
Die Feststellung von Blindheit setzt einen Befund voraus, der aufgrund einer speziellen augenärztlichen Untersuchung unter Begutachtungsgrundsätzen erhoben worden ist."
insbesondere Ein Nachweis, dass aufgrund einer visuellen Agnosie eine Erkennungsstörung vorliegt, wird nur bei ausreichendem Bewusstsein möglich sein. Wegen des im Verwaltungsverfahren herrschenden Untersuchungsgrundsatzes (§ 20 SGB X) und des Grundsatzes der objektiven Beweislast, wonach die Nichterweislichkeit von Anspruchsvoraussetzungen zu Lasten des den Anspruch Begehrenden geht, muss die medizinische Begutachtung mit besonderer Sorgfalt und höchstem Verantwortungsbewusstsein durchgeführt werden. Wenn es um die Beurteilung cerebraler Verarbeitungsstörungen geht, müssen neben subjektiven und objektiven ophthalmologischen Untersuchungen (visuell evozierte potentiale - VEP (z. B. in der Form eines Schachbrett-VEP oder bildgebende Verfahren - Computertomographie oder Magnet-Resonanz-Tomographie) neurologisch-psychiatrische Untersuchungen herangezogen werden können.
Nicht nur eine Blindheit, sondern auch eine Sehbehinderung ist rechtlich zu beachten. Unterschieden wird zwischen "wesentlicher Sehbehinderung" und "hochgradiger Sehbehinderung".
Wesentlich sehbehindert sind nach § 1 der Verordnung zu § 60 SGB XII, Personen, bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel
Grob gesagt darf die Sehschärfe nicht besser als 1/3 sein. Eine Tabelle für gleichartig zu behandelnde Sehbeeinträchtigungen, wie sie oben für die Blindheit angegeben ist, ist in den AHP nicht vorhanden.
Für die Feststellung von Hilflosigkeit (siehe AHP Nummer 21 Absatz 6) ist von Bedeutung, ob eine hochgradige Sehbehinderung vorliegt. Dazu heißt es in Nr. 23 (5) AHP:
"Hochgradig in seiner Sehfähigkeit behindert ist derjenige, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht bei beidäugiger Prüfung mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder wenn andere hinsichtlich des Schweregrades gleichzuachtende Störungen der Sehfunktion vorliegen. Dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des Sehvermögens einen GdB/MdE-Grad von 100 bedingt und noch nicht Blindheit vorliegt."
Der Begriff der hochgradigen Sehbehinderung ist auch für die Landesgesetze von Bedeutung, die neben dem Blindengeld eine Leistung für hochgradig Sehbehinderte gewähren. Es sind dies die Landesgesetze von Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt (vgl. H. 06). Die in diesen Gesetzen enthaltenen Definitionen stimmen inhaltlich mit derjenigen in Nr. 23 (5) der AHP überein.
Die Feststellung der Behinderung ist die Voraussetzung dafür, dass zahlreiche vom Gesetz eingeräumte Nachteilsausgleiche beansprucht werden können. Der Nachweis, dass eine Behinderung vorliegt, kann am einfachsten durch den Behindertenausweis geführt werden. Der Ausweis dient dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Leistungen und sonstigen Hilfen, die schwerbehinderten Menschen nach Teil 2 des SGB IX (Schwerbehindertenrecht) oder nach anderen Vorschriften zustehen. Zum Schwerbehindertenrecht nach Teil 2 des SGB IX vgl. insbesondere H. 05 "Teilhabe am Berufsleben" und zu den Nachteilsausgleichen H. 07 "Weitere Nachteilsausgleiche" dieser Schriftenreihe.
Das Vorliegen einer Behinderung wird nur auf Antrag des Betroffenen festgestellt (§ 69 Abs. 1 SGB IX). Zuständig sind die Versorgungsämter. Von anderen Behörden, z. B. den Sozialhilfebehörden kann aber im Wege der Mitwirkungspflicht (§§ 60 ff. SGB I) die Stellung eines solchen Antrags verlangt werden, um durch die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen Sozialhilfeleistungen zu ersparen.
Die Feststellung einer Behinderung setzt medizinische Beurteilungen voraus. Diese hängen von Ärzten, medizinischen Sachverständigen und Gutachtern ab.
Zur Beurteilung werden die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Stand 2004, herangezogen. (vgl. AHP Nr. 17).
Obwohl es sich bei diesen Anhaltspunkten um keine Rechtsnormen handelt und deshalb gegen ihre Gültigkeit Bedenken bestehen,, weil es an einer gesetzlichen Ermächtigung zu ihrem Erlass fehlt, werden sie als "antizipierte Gutachten" in der Rechtsprechung wie untergesetzliche Normen behandelt (s. zuletzt BSG: B 9 SB 3/02 R und B 9 SB 6/02 R vom 18.09.2003).
Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von insgesamt wenigstens 20 vorliegt (SGB 9 § 69 Abs. 1 S. 3).
Ab einem Grad der Behinderung von 50 wird auf Antrag ein Behindertenausweis ausgestellt (s. u.). Die Beantragung ist zu empfehlen (§ 69 Abs. 5 SGB IX), denn nur damit kann der andere Behörden bindende Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft geführt werden.
Die Statusentscheidung des Versorgungsamtes erspart wegen ihrer Bindungswirkung Feststellungen durch andere Behörden. Über die Eigenschaft als Schwerbehinderter Mensch hat nämlich an erster Stelle und im Zweifel das Versorgungsamt zu entscheiden. Deren Statusentscheidungen erstrecken sich nicht nur auf den Grad der Behinderung, sondern auch auf die gesundheitlichen Merkmale für Nachteilsausgleiche (§ 69 Abs. 1, 4 und 5 SGB IX). Sie sind für andere Verwaltungsbehörden bindend, sofern der nach einem anderen Gesetz zu beurteilende Tatbestand von inhaltsgleichen Voraussetzungen abhängt. Vgl. dazu die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 - 5 C 48/88 -, BVerwGE 90, 65-72 mit zahlreichen Hinweisen auf einschlägige Rechtsprechung, insbes. BVerwGE 66,315 [320]; BSGE 52,168 [174]; BSG SozR 3100 § 35 Nr. 16; u.a. BFHE 164,198 (200]). Das Versorgungsamt hatte durch Bescheid eine Blindheit mit einer GdB (seinerzeit noch MdE) von 100 und dem Merkzeichen "Bl" anerkannt. Nunmehr ging es um den Anspruch auf ein landesrechtliches Blindenpflegegeld. In diesem Verfahren konnte jedoch aus medizinischen Gründen eine Blindheit nicht festgestellt werden. Deshalb wurde der Antrag auf Blindengeld abgelehnt. Dagegen wandte sich die Klägerin mit dem Argument, dass die Feststellung des Versorgungsamtes für die Blindengeldstelle bindend sei. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihr recht. Ausschlaggebend war, dass im Schwerbehindertengesetz und in dem für den Rechtsstreit maßgebenden Blindengeldgesetz der gleiche Blindheitsbegriff galt. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das BVerwG im Anschluss an die Rechtsprechung des BSG und des BFH festgestellt, dass es nach dem Sinn und Zweck der Statusentscheidung den Schwerbehinderten erspart bleiben soll, stets wieder aufs Neue ihre Behinderung und die damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen untersuchen und beurteilen lassen zu müssen. Dieses Ziel wird durch die Konzentration der Statusentscheidungen bei den Versorgungsbehörden und durch eine umfassende Nachweisfunktion des von diesen ausgestellten Ausweises erreicht.
Hat umgekehrt eine andere Stelle, z. B. eine Berufsgenossenschaft bereits in einem Verwaltungsbescheid oder ein Sozialgericht in einem Urteil eine Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Erwerbsminderung, also die MdE, festgestellt, bedarf es grundsätzlich keiner zusätzlichen Entscheidung des Versorgungsamtes (§ 69 Abs. 2 SGB IX). Sie wird nur dann notwendig, wenn die andere Stelle nicht die gesamte Behinderung berücksichtigen konnte und der Behinderte ein Interesse an einer Feststellung durch die Versorgungsverwaltung glaub haft macht (§ 69 Abs. 2 SGB IX).
Für die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen erkennt demgemäß Das
Versorgungsamt Rentenbescheide, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen ohne
weiteres an, in anderen Fällen überprüft es die vorgelegten ärztlichen Befunde
anhand der "Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", bzw. Veranlasst eine
ärztliche Begutachtung.
Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" geben den Grad einer Behinderung (GdB) an. Der Grad der Behinderung wird von 0 bis 100 jeweils in Zehnerschritten angegeben. Also z. B. 10, 20, 30 usw.
Der Schwerbehindertenausweis wird ab einem GdB von 50 ausgestellt.
Der DGB beträgt z. B. beim vollständigen Verlust des Sehens auf einem Auge und gleichmäßiger Einschränkung des Gesichtsfeldes auf dem anderen Auge
Beim Vorliegen mehrerer Behinderungen werden die für die einzelnen Behinderungen ermittelten GdB-Werte nicht einfach addiert. Vielmehr wird ein Gesamt-GdB auf Grund der Auswirkungen in ihrer Gesamtheit festgestellt (§ 69 Abs. 3 SGB IX). Detaillierte Hinweise für die Bildung des Gesamt-GdB enthält Nr. 19 der AHP.
Für die Bildung eines solchen "Gesamt-GdB" kann von folgender Faustregel ausgegangen werden: Die schwerste Behinderung wird - entsprechend dem Tabellenwert der "Anhaltspunkte" - mit dem vollen Grad bewertet (z.B. mit einem GdB von 50), die zweitschwerste Behinderung mit 1/2 des Grades (z.B. mit 1/2 von 40 GdB = 20 GdB), die drittschwerste Behinderung mit 1/3 des Grades (z.B. 1/3 von 30 GdB = 10 GdB). Das ergibt einen Gesamt-GdB von 50 + 20 + 10 = 80. Allerdings kommt es auf die Auswirkung zusätzlicher Behinderungen auf die anderen vorhandenen Behinderungen an. So wird eine Hörbeeinträchtigung, die mit einer Sehbehinderung zusammentrifft stärker zu berücksichtigen sein, als dies nach dieser Faustregel der Fall sein würde.
Den Schwerbehindertenausweis gibt es in zwei Ausgestaltungen:
Der Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen dienen die im Schwerbehindertenausweis eingetragenen Merkzeichen. Je nach Ursache oder Art der Behinderung kann ein Ausweis folgende Merkzeichen tragen (§§ 2, 3 SchwbAwV):
VB oder EB = Kennzeichnung Berechtigter nach dem Bundesversorgungsgesetz (z. B. Kriegsbeschädigte) oder dem Bundesentschädigungsgesetz;
Im Ausweis sind nach § 3 Abs. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung auf der Rückseite folgende Merkzeichen einzutragen:
Im Ausweis mit orangefarbenem Flächenaufdruck sind folgende Eintragungen vorgedruckt (§ 3. Abs. 2 SchwbAwV):
Wenn eines dieser beiden Merkzeichen nicht zutrifft, ist es zu löschen.
Wer allein auf Grund einer Sehbehinderung einen GdB von 60 hat, erhält das Merkzeichen RF. (Befreiung von Rundfunk- und Fernsehgebühren).
Wer auf Grund der Sehbehinderung einen GdB von 70 hat, erhält die Merkzeichen RF, G (erhebliche Gehbehinderung) und B (Notwendigkeit ständiger Begleitung).
Wer auf Grund einer Sehbehinderung einen GdB von 100 hat (hochgradig Sehbehinderte) erhält die Merkzeichen RF, G, H (Hilflos) und B.
Wer auf Grund von Blindheit einen GdB von 100 hat, erhält die Merkzeichen Bl (blind), RF, G, H und B.
Auf die einzelnen Nachteilsausgleiche wird in Heft 07 eingegangen.
Bei der Beurteilung prüft der ärztliche Dienst des Versorgungsamtes auch die Frage, ob und ggf. wann eine Nachprüfung des Befundes erfolgen soll. Nach § 69 Abs. 5 S. 3 SGB IX soll Die Gültigkeitsdauer des Ausweises befristet werden. In der Regel wird der Ausweis auf 5 Jahre ab Ausstellungsdatum ausgestellt (§ 6 Abs. 2 Schbawv). Er kann zweimal verlängert werden. In den Fällen, in denen eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, nicht zu erwarten ist, kann der Ausweis jedoch unbefristet ausgestellt werden. Das trifft bei einer festgestellten Blindheit in der Regel zu.
Der Verwirklichung des in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und in den Verfassungen der Länder enthaltenen Benachteiligungsverbotes sowie der Förderung der Selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft dienen neben dem SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001 - das Bundesgleichstellungsgesetz (BGG) vom 27. April 2002 und die in den Ländern inzwischen erlassenen Landesgleichstellungsgesetze.
Sie haben einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik weg von reiner Betreuung, hin zu selbstbestimmter Teilhabe auf allen Ebenen des Gemeinschaftslebens zum Ziel. Damit dienen sie der Rehabilitation. Als Rehabilitationsrechtliche Gesetze haben sie nicht nur für das Sozialrecht Bedeutung, sondern greifen über dieses weit hinaus. Unmittelbar verpflichtend sind sie aber nur für den Staat und die öffentliche Verwaltung. Der Bereich des Zivilrechts wurde ausgespart. Er soll in einem zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetz gesondert geregelt werden.
Das Benachteiligungsverbot in Art. 3. Abs. 3 S. 2 GG und in den Gleichstellungsgesetzen verbieten nicht uneingeschränkt eine Andersbehandlung behinderter Menschen. Einschränkende Regelungen bedürfen jedoch einer besonderen Begründung. Grenzen zeigt z. B. die unter 4.3 aufgeführte Rechtsprechung.
Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), vom 27. April 2002 trat am 1. Mai 2002 in Kraft.
Das BGG ist in vier Abschnitte gegliedert:
Im ersten Abschnitt "Allgemeine Bestimmungen" wird das Ziel genannt (§ 1). Dabei sind die besonderen Belange behinderter Frauen zu berücksichtigen, vor allem durch Maßnahmen, die dem Ziel dienen, ihre Gleichstellung zu fördern (§ 2 BGG). In § 3 wird der Begriff der Behinderung definiert. In § 4 wird festgelegt, was unter Barrierefreiheit zu verstehen ist. § 5 führt mit der Möglichkeit, Zielvereinbarungen zu treffen, ein neues Instrument ein. § 6 enthält die Anerkennung der Gebärdensprache und anderer Kommunikationshilfen.
Abschnitt 2 "Verpflichtung zur Gleichstellung und Barrierefreiheit" enthält Verpflichtungen für die Träger öffentlicher Gewalt, soweit diese durch den Bundesgesetzgeber verpflichtet werden können. § 7 enthält demgemäß das Benachteiligungsverbot für Träger öffentlicher Gewalt. Die Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr enthält § 8. §9 konkretisiert für die nach § 7 verpflichteten Stellen das Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen. § 10 befasst sich mit der Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken, um auch dadurch z. B. für blinde Menschen Barrieren abzubauen. Dem Abbau von Barrieren bei der Informationsgewinnung dient § 11, der die dort genannten Einrichtungen zur Verwendung von Barrierefreier Informationstechnik verpflichtet.
Der 3. Abschnitt "Rechtsbehelfe" führt Instrumente ein, die der Durchsetzung der Rechte dienen, so dass diese häufig erst Wirkung entfalten können. Allein schon das Vorhandensein solcher Rechtsbehelfe wird vielfach dazu führen, dass die durch das BGG gewährten Rechte beachtet werden. So räumt § 12 den Behindertenverbänden die Vertretungsbefugnisse in verwaltungs- oder sozialrechtlichen Verfahren ein. § 13 enthält ein Verbandsklagerecht.
Der 4. Abschnitt "Beauftragte oder Beauftragter der Bundesregierung für die
Belange
behinderter Menschen" schafft für dieses Amt die rechtliche
Grundlage. § 14 regelt das Amt der oder des Beauftragten für die Belange
behinderter Menschen. § 15 enthält die Aufgaben und Befugnisse.
In § 1 BGG "Gesetzesziel" sind die drei Zielvorgaben des neuen Gesetzes geregelt. Danach gilt es,
§ 1 BGG ist ein Programmsatz. D. h. konkrete Rechte oder Pflichten bzw. sonstige Rechtsfolgen lassen sich daraus nicht ableiten. Die Ziele sind aber bei der Auslegung von Rechtsnormen, die Ansprüche gewähren, zu beachten.
Der Begriff der Behinderung wird in § 3 BGG wortgleich wie in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX definiert. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist. Vgl. dazu oben 2.1.
§ 2 Satz 1 BGG stellt klar, dass bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern die besonderen Belange behinderter Frauen zu berücksichtigen und bestehende Benachteiligungen zu beseitigen sind. Das ist deshalb gerechtfertigt, weil die Situation von Frauen mit einer Behinderung besonders schwierig ist.
Eine Klarstellung im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz bringt § 2 Satz 2 BGG, wonach besondere Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung behinderter Frauen zulässig sind. Der Gesetzgeber begründet diese Bevorzugung behinderter Frauen mit Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 GG, also der staatlichen Verpflichtung auf die Beseitigung bestehender Benachteiligungen von Frauen hinzuwirken. Zugleich wird auf Artikel 141 Abs. 4 EG-Vertrag Bezug genommen, der es zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen nicht verbietet, in der beruflichen Laufbahn spezifische Begünstigungen beizubehalten bzw. zu beschließen. In der Gesetzesbegründung wird aber betont, dass bei gleicher Qualifikation eine nur leicht behinderte Frau nicht automatisch einem schwerstbehinderten Mann vorzuziehen sein wird.
Eine Neuerung sind die sog. Zielvereinbarungen. Nach § 5 BGG sollen zur Herstellung der Barrierefreiheit (definiert in § 4 BGG) - soweit nicht besondere gesetzliche oder verordnungsrechtliche Vorschriften entgegenstehen - Zielvereinbarungen zwischen Verbänden behinderter Menschen und Unternehmen oder Unternehmensbranchen der verschiedenen Wirtschaftsbranchen getroffen werden. Berechtigt zum Abschluss von Zielvereinbarungen sind nur solche Verbände, die die Voraussetzungen nach § 13 Abs. 3 BGG (Verbandsklagerecht) erfüllen und vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung "anerkannt" sind. Der DBSV und der DVBS sind anerkannt.
Ziel dieses Instruments ist es, dass dort, wo der Bundesgesetzgeber keine Regelungskompetenz hat oder keine Regelung treffen will, auf vertraglicher Grundlage einvernehmliche Regelungen, die den Zielen des BGG dienen, geschaffen werden können. Eine Verpflichtung zum Abschluss einer Zielvereinbarung besteht allerdings nicht. Die Verbände behinderter Menschen können von den Unternehmen aber die Aufnahme von Verhandlungen über Zielvereinbarungen verlangen, § 5 Abs. 1 Satz 3 BGG.
Zielvereinbarungen zur Herstellung von Barrierefreiheit enthalten nach § 5 Abs. 2 BGG insbesondere:
Sie können ferner eine Vertragsstrafenabrede für den Fall der Nichterfüllung oder des Verzugs enthalten.
Um Unternehmen davor zu schützen, dass zeitgleich oder nacheinander verschiedene Verbände die Aufnahme von Verhandlungen verlangen, ist in § 5 Absatz 3 BGG vorgeschrieben, dass der Verband, der als erster an ein Unternehmen herantritt, dies gegenüber einem "Zielvereinbarungsregister" anzeigen muss. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung gibt diese Anzeige auf seiner Internetseite bekannt. Das Ministerium veröffentlicht die notwendigen Angaben im Internet. Innerhalb von vier Wochen können sich dann andere Verbände diesem Verfahren anschließen. Nachdem die Beteiligten feststehen und die beteiligten Verbände behinderter Menschen eine gemeinsame Verhandlungskommission gebildet oder vereinbart haben, dass nur ein Verband verhandelt, sind die Verhandlungen innerhalb weiterer vier Wochen aufzunehmen.
Weitere Einzelheiten zum Verhandlungsanspruch der anerkannten Verbände regelt § 5 Abs. 4 BGG.
Eine Übersicht über die anerkannten Verbände nach § 5 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 13 Abs. 3 BGG sowie weitere Hinweise zum Abschluss von Zielvereinbarungen und eine Datenbank, in die alle Zielvereinbarungen aufgenommen werden sollen, sind der Internetseite des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung zu entnehmen.
Nach § 6 Abs. 1 BGG wird die Deutsche Gebärdensprache als eine eigenständige Sprache anerkannt. Lautsprachbegleitende Gebärden werden als Kommunikationsform der deutschen Sprache anerkannt.
Für die Praxis bedeutsam ist das in § 6 Abs. 3 BGG normierte Recht hörbehinderter Menschen (Gehörloser, Ertaubter, Schwerhöriger), nach Maßgabe der einschlägigen Gesetze die Deutsche Gebärdensprache oder lautsprachbegleitende Gebärden zu verwenden. Das stellt eine Einschränkung dar. Für die Verwendung der Gebärdensprache oder lautsprachbegleitenden Gebärden bedarf es danach eines Spezialgesetzes, wie z.B. § 17 SGB I (Beachtung der Barrierefreiheit bei der Ausführung von Sozialleistungen), § 57 SGB IX (Anspruch von hörbehinderten Menschen oder von behinderten Menschen mit besonders starker Beeinträchtigung der Sprachfähigkeit auf Verständigungshilfe bei Maßnahmen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft), § 19 SGB X (Recht auf die Verwendung der Gebärdensprache für Hörbehinderte im Verwaltungsverfahren) sowie den Gesetzen über das gerichtliche Verfahren (ArbGG, GVG, ZPO usw.).
Für das Verwaltungsverfahren mit Bundesbehörden bestimmt § 9 BGG "Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen":
(1) Hör- oder sprachbehinderte Menschen haben nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 das Recht, mit Trägern öffentlicher Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 in Deutscher Gebärdensprache, mit lautsprachbegleitenden Gebärden oder über andere geeignete Kommunikationshilfen zu kommunizieren, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist. Die Träger öffentlicher Gewalt haben dafür auf Wunsch der Berechtigten im notwendigen Umfang die Übersetzung durch Gebärdensprachdolmetscher oder die Verständigung mit anderen geeigneten Kommunikationshilfen sicherzustellen und die notwendigen Aufwendungen zu tragen.
(2) Das Bundesministerium des Innern bestimmt im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf:
Die Einzelheiten sind der Verordnung zur Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz Kommunikationshilfenverordnung (KHV) vom 27. Juli 202 (BGBl I S. 2650) zu entnehmen. Der Anspruch besteht in dem zur Wahrnehmung der Rechte erforderlichen Umfang. Dabei besteht ein Wahlrecht, welcher Kommunikationshilfe sich der Betroffene bedienen will (§ 2 KHV). Soweit von diesem Wahlrecht nicht Gebrauch gemacht wird, ist die Behörde zur Stellung des Gebärdendolmetschers oder der sonstigen Kommunikationshilfe verpflichtet (§ 4 KHV). Die Kosten sind von der Behörde nach Maßgabe von § 5 KHV zu tragen. Erhält die Behörde Kenntnis von der Hör- oder Sprachbehinderung von Berechtigten im Verwaltungsverfahren, hat sie diese auf ihr Recht auf barrierefreie Kommunikation und auf ihr Wahlrecht hinsichtlich der Kommunikationshilfe hinzuweisen (§ 2 Abs. 3 KHV).
Für Taubblinde oder hörbehinderte Blinde eröffnet § 6 Abs. 3 S. 2das Recht, andere Kommunikationshilfen, wie z. B. Lormen oder Blindenschrift nach Maßgabe der einschlägigen Gesetze zu verwenden.
In § 3 Abs. 2 Nr. 2 a) KHV ist das Lormen ausdrücklich erwähnt.
Eines der zentralen Ziele des BGG ist die Herstellung von Barrierefreiheit für behinderte Menschen. Durch sie kann die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft häufig erst ermöglicht oder zumindest erleichtert werden. Barrierefreiheit besteht nach der Definition des § 4 BGG dann, wenn "Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche" ... "für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind." Es geht also nicht nur um bauliche Barrieren wie Zugänge zu Gebäuden, sondern auch um technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen. Das ist für blinde und sehbehinderte Menschen von großer Bedeutung. Als Stichworte für Barrieren in diesen Bereichen seien hier nur genannt: Probleme bei der Bedienbarkeit elektronischer Geräte, z. B. Rundfunkgeräte, bei der Verwendung von Sensoren als Bedienungselemente, reine optische Benutzerführung bei solchen Geräten oder Automaten, Zugänglichkeit zu Informationen im Internet, Filme und Fernsehsendungen ohne Bildbeschreibung (Audiodescription). Hier wird die Barrierefreiheit möglicherweise durch Zielvereinbarungen im Sinn von § 5 BGG angestrebt werden können.
Spezialregeln zur Barrierefreiheit sind die §§ 8, 10 und 11. § 8 BGG regelt die Herstellung der Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr, § 11 BGG die barrierefreie Informationstechnik und § 10 BGG regelt Einzelheiten bei der Gestaltung von Bescheiden, amtlichen Informationen und Vordrucken.
BGG § 8 hat die Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr zum Gegenstand. Abs. 1 lautet: "(1) Zivile Neubauten sowie große zivile Um- oder Erweiterungsbauten des Bundes einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sollen entsprechend den allgemein anerkannten Regeln der Technik barrierefrei gestaltet werden. Von diesen Anforderungen kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt werden. Die landesrechtlichen Bestimmungen, insbesondere die Bauordnungen, bleiben unberührt."
§ 8 Abs. 1 BGG stellt eine Selbstverpflichtung des Bundes dar.
Die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift bezweckt, einen unverhältnismäßigen Mehraufwand im Einzelfall berücksichtigen zu können. Entsprechend der Gesetzesbegründung gilt ein Neu-, Um- oder Erweiterungsbau als "groß", wenn durch die baulichen Maßnahmen Kosten von mehr als 1 Mio. Euro ausgelöst werden. Die Vorschrift betrifft nicht Bauunterhaltungsmaßnahmen und lässt auch den bisherigen Bestandsschutz unberührt. Bei der barrierefreien Gestaltung sollen die allgemein anerkannten Regeln der Technik, insbesondere die aktuellen DIN-Vorschriften berücksichtigt werden.
Sonstige bauliche oder andere Anlagen, öffentliche Wege, Plätze und Straßen sowie öffentlich zugängliche Verkehrsanlagen und Beförderungsmittel im öffentlichen Personenverkehr "sind" nach § 8 Abs. 2 BGG barrierefrei zu gestalten.
BGG § 11 hat die barrierefreie Informationstechnik zum Ziel. Nach § 11 Abs. 1 BGG haben Träger öffentlicher Gewalt im Sinne von § 7 BGG (Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Bundesverwaltung, einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts) ihre Internet und Intranetseiten technisch so zu gestalten, dass sie von behinderten Menschen grundsätzlich uneingeschränkt benutzt werden können. Um das für blinde und sehbehinderte Menschen zu erreichen, müssen sie mit Screenreadern lesbar sein. Symbole müssen dafür z. B. mit erklärendem Text hinterlegt werden. Die Blindenselbsthilfeorganisationen stehen zur Beratung zur Verfügung.
§ 11 Abs. 1 BGG bezieht sich auf das Rechtsverhältnis zwischen Verwaltung und Bürgern. Gegenüber den Mitarbeitern ist die öffentliche Verwaltung bereits aus § 81 Abs. 4 SGB IX als Arbeitgeber verpflichtet.
Nach § 11 Abs. 1 S. 2 BGG bestimmt Das Bundesministerium des Innern im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung durch Rechtsverordnung, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, nach Maßgabe der technischen, finanziellen und verwaltungsorganisatorischen Möglichkeiten:
Dazu erging die Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz - Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) vom 17. Juli 2002 (BGBl I S. 2654). Nach § 1 BITV "Sachlicher Geltungsbereich" gilt die Verordnung für:
der Behörden der Bundesverwaltung. Die Standards, die zu beachten sind, sind in einer Anlage nach § 3 BITV aufgeführt. § 4 BITV enthält Umsetzungsfristen. Diese laufen bis längstens 31. 12. 2005.
Nach § 11 Abs. 2 BGG hat die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass gewerbsmäßige Anbieter von Internetseiten ihre Produkte im Wege von Zielvereinbarungen nach § 5 BGG entsprechend den Vorgaben von Absatz 1 gestalten.
Nach § 10 Abs. 1 BGG haben Träger öffentlicher Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 BGG (Dienststellen und sonstige Einrichtungen der Bundesverwaltung, einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts) bei der Gestaltung von schriftlichen Bescheiden, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Vordrucken eine Behinderung von Menschen zu berücksichtigen. Blinde und sehbehinderte Menschen können nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach Absatz 2 insbesondere verlangen, dass ihnen Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke ohne zusätzliche Kosten auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist. Das bedeutet, dass es um die Rechte des Betroffenen geht. Ein blinder Rechtsanwalt, der Rechte eines Mandanten wahrnimmt, könnte nicht verlangen, dass ihm die Bescheide usw. in angepasster Form zugehen. In dieser Rechtsverordnung wird bestimmt, bei welchen Anlässen und in welcher Art und Weise die in Absatz 1 genannten Dokumente blinden und sehbehinderten Menschen zugänglich zu machen sind. Vgl. dazu im einzelnen die Verordnung zur Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Menschen im Verwaltungsverfahren nach dem Behindertengleichstellungsgesetz - Verordnung über barrierefreie Dokumente in der Bundesverwaltung (VBD) vom 17. Juli 2002 (BGBl I S. 2652). Der Anspruch umfasst Bescheide, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke (Dokumente), einschließlich der Anlagen (§ 2 VBD). Die Dokumente können nach § 3 VBD den Berechtigten schriftlich, elektronisch, akustisch, mündlich oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht werden.
Wenn Dokumente in schriftlicher Form übermittelt werden, erfolgt dies in Blindenschrift oder in Großdruck (VBD § 3 Abs. 2). Bei Großdruck sind ein Schriftbild, eine Kontrastierung und eine Papierqualität zu wählen, die die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit der Berechtigten ausreichend berücksichtigen. Die mündliche Übermittlung wird zweckmäßigerweise durch Aufsprache auf einen Tonträger erfolgen, damit die Unterlagen wiederholt abgehört werden können. Wenn der Berechtigte über einen E-Mail-Anschluss verfügt, wird die Übermittlung per E-Mail am zweckmäßigsten sein. Wenn der Berechtigte in der Lage ist, die Unterlagen mit einem Lese-Sprechgerät zu lesen, müssen die Dokumente in einer Qualität erstellt werden, die von solchen Geräten sicher erfasst werden können. Notwendig ist ein klares Schriftbild, wie z. B. "Arial" und ein guter Kontrast.
Die Dokumente sollen den Berechtigten, soweit möglich, gleichzeitig mit der Bekanntgabe auch in der für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden (§ 4 VBD). Für den Beginn von Fristen ist der Zugang des Originaldokuments, nicht des Dokuments in angepasster Form maßgebend. Der Umfang des Anspruchs ist in VBD § 5 geregelt. Diese Bestimmung lautet:
"(1) Der Anspruch der Berechtigten, dass ihnen Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, besteht, soweit dies zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren erforderlich ist. Dabei ist insbesondere der individuelle Bedarf der Berechtigten zu berücksichtigen.
(2) Die Berechtigten haben nach Maßgabe des Absatzes 1 ein Wahlrecht zwischen den in § 3 genannten Formen, in denen Dokumente zugänglich gemacht werden können. Die Berechtigten haben dazu der Behörde rechtzeitig mitzuteilen, in welcher Formund mit welchen Maßgaben die Dokumente zugänglich gemacht werden sollen. Die Behörde kann die ausgewählte Form, in der Dokumente zugänglich gemacht werden sollen, zurückweisen, wenn sie ungeeignet ist oder in sonstiger Weise den Voraussetzungen des Absatzes 1 nicht entspricht. Die Blindheit oder die Sehbehinderung sowie die Wahlentscheidung nach Satz 1 sind aktenkundig zu machen und im weiteren Verwaltungsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen.
(3) Erhält die Behörde Kenntnis von der Blindheit oder einer anderen Sehbehinderung von Berechtigten im Verwaltungsverfahren, hat sie diese auf ihr Recht, dass ihnen Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, und auf ihr Wahlrecht nach Absatz 2 Satz 1 hinzuweisen."
Zur Erstellung der Dokumente in der angepassten Form kann sich die verpflichtete Behörde auch der Hilfe einer anderen Behörde bedienen, oder einen Dritten, z. B. einen Textservice, beauftragen (§ 6 VBD). Dabei müssen selbstverständlich die Bestimmungen des Datenschutzes beachtet werden.
Der 3. Abschnitt "Rechtsbehelfe" führt Instrumente ein, die der Durchsetzung der Rechte dienen.
Werden behinderte Menschen in ihren Rechten aus § 7 Abs. 2 (Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot durch Bundesbehörden), § 8 (Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr, § 9 Abs. 1 (Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und anderen Kommunikationshilfen), § 10 Abs. 1 Satz 2 (Gestaltung von Bescheiden und Vordrucken) oder § 11 Abs. 1 (Barrierefreie Informationstechnik) verletzt, können an ihrer Stelle und mit ihrem Einverständnis Verbände die nach § 13 Abs. 3 BGG das Verbandsklagerecht haben, aber nicht selbst am Verfahren beteiligt sind, Rechtsschutz beantragen, d. h. an Stelle des behinderten Menschen das Verfahren betreiben. Gleiches gilt bei Verstößen gegen Vorschriften des Bundesrechts, die einen Anspruch auf Herstellung von Barrierefreiheit im Sinne des § 4 BGG oder auf Verwendung von Gebärden oder anderen Kommunikationshilfen im Sinne des § 6 Abs. 3 BGG vorsehen. Der Verband tritt hier selbst als Kläger auf. Es handelt sich um eine Prozessstandschaft. Der Verband hat die Befugnis, ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend zu machen, während ein Vertreter in fremdem Namen handelt. Die Verfahrensvoraussetzungen müssen aber bei dem in seinen Rechten verletzten behinderten Menschen vorliegen. Es muss also bei diesem die Klagebefugnis gegeben sein. Die Klage muss zulässig sein usw. Selbstverständlich bleibt es dem betroffenen behinderten Menschen überlassen, ob er selbst in eigenem Namen sein Recht verfolgen will, ob er sich dabei eines Vertreters, z. B. eines Rechtsanwaltes oder der Vertretung durch einen Verband bedienen will oder ob er der Wahrnehmung des Rechts im Wege der Prozessstandschaft durch einen Verband zustimmt.
Mit § 13 BGG wurde darüber hinaus ein echtes Verbandsklagerecht gesetzlich normiert.
Ein nach § 13Absatz 3 anerkannter Verband kann gemäß § 13 Abs. 1 BGG, ohne in seinen Rechten verletzt zu sein, Klage nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung oder des Sozialgerichtsgesetzes erheben.
Die Klage muss sich auf einen der in § 13 Abs. 1 genannten Gegenstände beziehen. Das sind:
1. nach dem Bundesgleichstellungsgesetz:
2. folgende Vorschriften des Bundesrechts zur Herstellung der Barrierefreiheit in anderen Bundesgesetzen:
3. die Vorschriften des Bundesrechts außerhalb des BGG zur Verwendung von Gebärdensprache oder anderer geeigneter Kommunikationshilfen. Das sind:
Eine Klage ist nach § 13 Abs. 2 BGG nur zulässig, wenn der Verband durch die
Maßnahme in seinem satzungsgemäßen Aufgabenbereich berührt wird. Soweit ein
behinderter Mensch
selbst seine Rechte durch eine Gestaltungs- oder
Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können, kann die Klage nach
Absatz 1 nur erhoben werden, wenn der Verband geltend macht, dass es sich bei
der Maßnahme um einen Fall von allgemeiner Bedeutung handelt. Dies ist
insbesondere der Fall, wenn eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle vorliegt. Für
Klagen nach Absatz 1 Satz 1 gelten die Vorschriften des 8. Abschnitts der
Verwaltungsgerichtsordnung über Besondere Vorschriften für Anfechtungs- und
Verpflichtungsklagen entsprechend mit der Maßgabe, dass es eines Vorverfahrens
auch dann bedarf, wenn die angegriffene Maßnahme von einer obersten Bundes- oder
einer obersten Landesbehörde erlassen worden ist.
Nach § 13 Abs. 3 BGG kann das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Auf Vorschlag der Mitglieder des Beirates für die Teilhabe behinderter Menschen, die nach § 64 Abs. 2 Satz 2, 1., 3. oder 12. Aufzählungspunkt des Neunten Buches Sozialgesetzbuch berufen sind, die Anerkennung erteilen. Es soll die Anerkennung erteilen, wenn der vorgeschlagene Verband
Der DBSV und der DVBS sind anerkannt worden.
Nach § 14 Abs. 1 BGG bestellt die Bundesregierung eine Beauftragte oder einen Beauftragten für die Belange behinderter Menschen.
Das Amt endet, außer im Fall der Entlassung, mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestages.
Aufgabe des beauftragten ist nach § 15 BGG, darauf hinzuwirken, dass die Verantwortung des Bundes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Sie setzt sich bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe dafür ein, dass unterschiedliche Lebensbedingungen von behinderten Frauen und Männern berücksichtigt und geschlechtsspezifische Benachteiligungen beseitigt werden.
Zur Wahrnehmung der Aufgabe nach Absatz 1 beteiligen die Bundesministerien den beauftragten bei allen Gesetzes-, Verordnungs- und sonstigen wichtigen Vorhaben, soweit sie Fragen der Integration von behinderten Menschen behandeln oder berühren. Alle Bundesbehörden und sonstigen öffentlichen Stellen im Bereich des Bundes sind verpflichtet, ihn bei der Erfüllung der Aufgabe zu unterstützen, insbesondere die erforderlichen Auskünfte zu erteilen und Akteneinsicht zu gewähren.
Jeder kann sich mit Anfragen oder der Bitte um Hilfe an den Beauftragten der Bundesregierung wenden. Dadurch wird aber die Einlegung eines Rechtsbehelfs in einem förmlichen Verfahren nicht ersetzt. Insbesondere werden dadurch Fristen nicht gewahrt.
Für die Verwaltungen der Länder, die Gemeinden, die Gemeindeverbände und sonstigen der Länderaufsicht unterstehenden Körperschaften des öffentlichen Rechts wie z.B. die Universitäten sowie die Gerichte und Staatsanwaltschaften sind wegen der Gesetzgebungskompetenz Landesgleichstellungsgesetze erforderlich. Solche sind nahezu in allen Bundesländern erlassen worden. Die Texte der Gleichstellungsgesetze sind in Heft 11 "Gesetzestexte" dieser Schriftenreihe zu finden.
Auf Einzelheiten der Landesgleichstellungsgesetze kann hier nicht eingegangen werden. Die Landesgleichstellungsgesetze dienen sowohl der Umsetzung des Benachteiligungsverbotes in Art. 3. Abs. 3 S. 2 GG als auch der Umsetzung der in den Landesverfassungen enthaltenen Benachteiligungsverbote. Sie folgen im Wesentlichen dem Aufbau und Inhalt des Bundesgleichstellungsgesetzes. Insbesondere der Behindertenbegriff wird im Interesse der Einheitlichkeit von diesem Übernommen. Die Inhalte sind im Wesentlichen:
Durch die Landesgleichstellungsgesetze werden jeweils auch zahlreiche Landesgesetze geändert z. B. in den Bereichen:
Auch die Landesgleichstellungsgesetze werden jeweils durch Rechtsverordnungen ergänzt, in welchen Einzelheiten zum Gebrauch der deutschen Gebärdensprache oder anderer Kommunikationshilfen, zur Gestaltung von Vordrucken und Bescheiden und zur barrierefreien Gestaltung von Internet- und Intranetauftriten geregelt sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. März 2004 - 2 BvR 577/01 - die Verfassungsbeschwerde eines Blinden gegen den Beschluss des LG Leipzig vom 7. März 2001 - 322-1/00 -, ihn von der Schöffenliste zu streichen, nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Verfassungsbeschwerde betraf die Frage, ob einer blinden Person unter Hinweis auf ihre Behinderung die Eignung für ein Schöffenamt in Strafsachen abgesprochen werden darf.
Zur Begründung der Streichung von der Schöffenliste führte das LG Leipzig unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 17. Dezember 1987 (BGHSt 35, 164) aus, der Beschwerdeführer sei infolge eines körperlichen Gebrechens für ein Schöffenamt beim Landgericht nicht geeignet. Ein Schöffe müsse ebenso wie ein Berufsrichter in der Lage sein, alle ihm verfahrensrechtlich obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Dazu benötige er auch die Fähigkeit, die Vorgänge in der Hauptverhandlung umfassend optisch wahrzunehmen. An einer Augenscheinseinnahme könne ein Blinder jedoch nicht mitwirken. Zudem verlange der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz, dass sich ein Schöffe einen eigenen auch optischen Eindruck von den Verfahrensbeteiligten, insbesondere von ihren Reaktionen, ihrer Mimik und Gestik, machen könne. Diese Erkenntnisse seien einem Blinden verschlossen und weder durch einen Augenscheinsgehilfen noch durch Übermittlung seitens der Richterkollegen ersetzbar. Da die Strafprozessordnung die Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung weitgehend in die Verantwortung des Tatrichters stelle und Insoweit nur eine beschränkte revisionsrechtliche Überprüfung vorsehe, müsse sie die Fähigkeit eines Schöffen gewährleisten, sämtliche - auch optischen - Eindrücke zu empfangen. Dementsprechend knüpfe § 33 Nr. 4 GVG a. F. die Eignung zum Schöffenamt an körperliche Voraussetzungen, deren Fehlen die nachträgliche Streichung eines Schöffen gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 GVG sachlich rechtfertige.
Das BverfG hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Es führt dazu aus:
"Die Entscheidung des Landgerichts, den Beschwerdeführer wegen seiner Blindheit gemäß §§ 77, 52 Abs. 1 Nr. 2 GVG von der dort geführten Schöffenliste zu streichen, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die dieser Entscheidung zu Grunde liegende Auffassung, die mangelnde Sehfähigkeit des Beschwerdeführers sei ein Seine Eignung als Hilfsschöffe der Strafkammer ausschließendes körperliches Gebrechen im sinne der § § 77 GVG, 33 Nr. 4 GVG a. F., verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.
Insbesondere hat das Landgericht nicht gegen das Verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, Behinderte zu benachteiligen, verstoßen. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG will den Schutz des allgemeinen. Gleichheitssatzes für bestimmte Personengruppen verstärken und der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Ungleichbehandlung dienen darf (vgl. BVerfGE 85, 191 <206>; 96, 288 <302> sowie BTDrucks 12/6323, S. 12). Das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gilt jedoch nicht ohne jede Einschränkung. Fehlen einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach zulässig, wenn behinderungsbezogene Besonderheiten es zwingend erfordern (vgl. BTDrucks 12/6323, S. 12 sowie BVerfGE 85, 191 <207>; 99, 341 <357>). Diesem Maßstab wird - nach Auffassung des BVerfG - die angegriffene Entscheidung gerecht. Das Landgericht habe dem Beschwerdeführer die Eignung für das Schöffenamt in einer Strafkammer nicht deswegen abgesprochen, weil er behindert sei, sondern weil ihm eine bestimmte körperliche Fähigkeit, die Sehfähigkeit, fehle, die nach Ansicht des Gerichts unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung eines solchen Amts sei. Die Streichung des Beschwerdeführers von der Schöffenliste erfolgte also nicht ohne sachlichen Grund. Vielmehr habe das Landgericht sie vorgenommen, um einer behinderungsbedingten Besonderheit Rechnung zu tragen.
Zu dieser Entscheidung ist festzustellen: Das BVerfG hat sich darauf gestützt, dass das Landgericht den Beschwerdeführer nicht wegen seiner Blindheit vom Schöffenamt ausgeschlossen habe, sondern weil es das Sehvermögen als unabdingbare Voraussetzung für die Wahrheitsfindung im Strafprozess betrachte. Das BVerfG hat sich bedauerlicherweise nicht mit der Frage befasst, ob sich ein Blinder auf Grund der verbliebenen Restsinne und durch den Einsatz spezieller Techniken (z. B. Anfertigung taktiler Pläne) ein zutreffendes Urteil zu bilden vermag. Eine solche Nachprüfung hätte zu einer anderen Entscheidung führen können.
Für eine Laienrichtertätigkeit in anderen Gerichtszweigen wird mit dieser Entscheidung blinden Menschen die Eignung nicht abgesprochen.
Der Erste Senat des BVerfG hat in einer Grundsatzentscheidung (Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BVR 9/97) die Verfassungsbeschwerde einer körperbehinderten Schülerin aus Niedersachsen im Zusammenhang mit deren Überweisung von einer Gesamtschule an eine Sonderschule als unbegründet zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin hatte erfolgreich die Grundschule einer Gesamtschule besucht. Zu Beginn des Schuljahres 1995/96 wechselte sie in den 5. Schuljahrgang einer Integrierten Gesamtschule. Kurz darauf verfügte die Schulbehörde ihre Überweisung in eine Sonderschule.
Mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde wollte die Schülerin erreichen, in der Gesamtschule verbleiben zu können.
Der Erste Senat hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Die Leitsätze der Entscheidung lauten:
Zur Begründung dieser (ersten) Entscheidung des BVerfG zu Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG heißt es u.a.:
"1. Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG liegt nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Wann dies der Fall ist, wird regelmäßig von Wertungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und prognostischen Einschätzungen abhängen.
a. Im Schulwesen wird die weitgehende Befugnis der Länder nicht nur durch das Recht des Schülers auf möglichst - ungehinderte Entwicklung seiner Persönlichkeit, Anlagen und Befähigungen (Art. 2 Abs. 1 GG) und das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) beschränkt. Auch der neugeschaffene Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG setzt insoweit Grenzen.
Der Staat und die Schulgesetzgeber tragen für behinderte Kinder eine besondere Verantwortung. Der Staat ist grundsätzlich gehalten, für behinderte Kinder und Jugendliche schulische Einrichtungen bereitzuhalten, die auch ihnen eine sachgerechte schulische Erziehung, Bildung und Ausbildung ermöglichen. Nach dem gegenwärtigen pädagogischen Erkenntnisstand ließe sich ein genereller Ausschluss der Möglichkeit einer gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung von behinderten Schülern mit nichtbehinderten derzeit verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Dem hat der niedersächsische Landesgesetzgeber dadurch Rechnung getragen, dass er für Schülerinnen und Schüler, die sonderpädagogischer Förderung bedürfen, neben der Sonderschule "an allen Schulen" und in integrationsklassen mit zieldifferenter Beschulung die Möglichkeit der gemeinsamen Erziehung und unterrichtung mit anderen Schülern geschaffen hat. Dabei soll die Unterrichtung integrativ und zielgleich erfolgen, wenn auf diese Weise - erforderlichenfalls unter Bereitstellung sonderpädagogischer Förderung - dem individuellen Förderbedarf der förderungsbedürftigen Schülerinnen und Schüler entsprochen werden kann und soweit es die organisatorischen, personellen - und sächlichen Gegebenheiten erlauben.
Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass nach diesem Konzept die zielgleiche wie die zieldifferente integrative Erziehung und Unterrichtung unter den Vorbehalt des organisatorisch, personell und von den sächlichen Voraussetzungen her Möglichen gestellt ist. Dieser Vorbehalt ist Ausdruck dessen, dass der Staat seine Aufgabe, ein begabungsgerechtes Schulsystem bereit zuhalten, von vornherein nur im Rahmen seiner finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten erfüllen kann, und erklärt sich daraus, dass der Gesetzgeber auch andere Belange berücksichtigen und sich die Möglichkeit erhalten muss, die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel für solche anderen Belange einzusetzen, wenn er dies für erforderlich hält. Im Rahmen seiner Entscheidungsfreiheit kann der Gesetzgeber von der Einführung solcher integrationsformen absehen, deren Verwirklichung ihm aus pädagogischen, aber auch aus organisatorischen, personellen und finanziellen Gründen nicht vertretbar erscheint. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die verbleibenden Möglichkeiten einer integrativen Erziehung und unterrichtung den Belangen behinderter Kinder und Jugendlicher ausreichend Rechnung tragen.
b. Auch Auslegung und Anwendung des Schulrechts sind an die Vorgaben des Benachteiligungsverbots des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gebunden. Zwar stellt die Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung dar. Eine solche kommt jedoch u.a. dann in Betracht, wenn die Sonderschulüberweisung erfolgt, obgleich der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte. Ausschlaggebend hierfür ist das Ergebnis einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall. Dabei sind die jeweiligen Vor- und Nachteile einer integrativen oder separierenden schulischen Ausbildung weder allein aus der Sicht der behinderten Schüler und ihrer Eltern noch ausschließlich aus der Sicht der Schulverwaltung zu beurteilen. Die Vorstellungen der Eltern und Schüler haben allerdings im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 S. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG ein großes Gewicht. Diese Vorstellungen muss die Schulbehörde eingehend prüfen. …
Die Entscheidung (der Schulbehörde über die Überweisung an eine Sonderschule) obliegt im Licht des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG eine gesteigerte Begründungspflicht. Anzugeben sind danach je nach Lage des Falles Art und Schwere der Behinderung und die Gründe, die die Behörde gegebenenfalls zu der Einschätzung gelangen lassen, dass Erziehung und Unterrichtung des Behinderten am besten in einer Sonderschule gewährleistet erscheinen. Gegebenenfalls sind auch organisatorische, personelle oder sächliche Schwierigkeiten sowie die Gründe darzulegen, warum diese Schwierigkeiten im konkreten Fall nicht überwunden werden können.
Die Kontrollbefugnis des BVerfG gegenüber den verwaltungsgerichten beschränkt sich darauf zu überprüfen, ob die angegriffenen Entscheidungen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot verletzen oder Fehler erkennen lassen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, hier insbesondere des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind."
Zum Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und im saarländischen Gleichstellungsgesetz nimmt mit ausführlicher Begründung das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes 3. Senat in seinem Beschluss vom 9. Februar 2004, Az: 3 Q 16/03 Stellung. Auch in diesem Fall geht es um die Einweisung eines behinderten Kindes in eine Schule für Körperbehinderte mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Leitsätze dieser Entscheidung lauten:
Mit dem Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG befasst sich auch der Beschluss des BVerfG 1. Senat vom 19. Januar 1999, Az: 1 BvR 2161/94. Der Gesetzgeber hat die Regelungen im BGB und im Beurkundungsgesetz zwischenzeitlich geändert. Die Begründung ist aber trotzdem von Interesse. Der Leitsatz lautet:
Der generelle Ausschluss schreib- und sprechunfähiger Personen von der Testiermöglichkeit in den §§ 2232, 2233 BGB, 31 BeurkG verstößt gegen die Erbrechtsgarantie des Art 14 Abs. 1 GG sowie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs. 1 GG und das Benachteiligungsverbot für Behinderte in Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG.
Zum Problem der Benachteiligung behinderter Menschen führt das BVerfg aus:
"4d. Die erbrechtlichen Formvorschriften verletzen auch den besonderen Gleichheitssatz des GG Art 3 Abs. 3 S 2, das Verbot der Benachteiligung Behinderter.
aa) Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleichbehandlung. Behinderte werden zum Beispiel benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen (vgl. BVerfG, 8. Oktober 1997, 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288, 302f).
bb) Zwar kann das Benachteiligungsverbot des GG Art 3 Abs. 3 S 2 nicht ohne jede Einschränkung gelten. Fehlen einer Person gerade aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach jedoch nur zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen. Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerlässlich sein, um behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Solche behinderungsbedingten Besonderheiten liegen bei der Testamentserrichtung aber nur in den Fällen vor, in denen schreib- und sprechunfähige Personen nicht die dafür erforderliche Einsichts- oder Handlungsfähigkeit besitzen."