Schriftenreihe
Rechtsberatung für blinde und sehbehinderte Menschen

von

Dr. Herbert Demmel und Karl Thomas Drerup

Stand: April 2006

Herausgeber:

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V (DVBS)

Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.

Mit freundlicher Unterstützung von NOVARTIS ophthalmics

Heft 12 der Schriftenreihe:
Urteile und Gerichtsbeschlüsse

Inhaltsverzeichnis

1.1 Arbeitsplatzassistenz - positives Urteil des VERWALTUNGSGERICHTS HALLE vom 29. 11. 2001

Nr: MWRE012160300

VG Halle (Saale) 4. Kammer Urteil vom 29. November 2001, Az: 4 A 496/99

SchwbG § 31 Abs 3 S 1 Nr 1 Buchst c, SchwbAV § 18 Abs 2 Nr 2, SchwbAV § 21 Abs 4, SchwbAV § 27, SGB 9 § 102 Abs 4, SchwbAV § 17 Abs 1a

Schwerbehinderter; Notwendigkeit einer Arbeitsassistenz; zur Mittelverwendung

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen des Anspruchs gegen das Integrationsamt auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz bei wirtschaftlicher Selbstständigkeit aus Mitteln der Ausgleichsabgabe (insbesondere zur Frage der Zumutbarkeit der Aufbringung eigener Mittel durch den schwerbehinderten Menschen).

Orientierungssatz

1. Der Kostenübernahmeanspruch nach SGB 9 § 102 Abs 4, SchwbAV § 17 Abs 1a besteht nur, soweit die Arbeitsplatzassistenz "notwendig" ist. Da es im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeitsleben um den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile geht, ist die Vorschrift so zu verstehen, dass der Kostenübernahmeanspruch sich auf den Umfang der Assistenztätigkeit beschränkt, der auf Grund der Behinderung des schwerbehinderten Menschen notwendig ist. Soweit die Assistenztätigkeit unabhängig von der Behinderung für die jeweilige Berufsausübung notwendig ist, etwa als Sprechstundenhilfe, besteht ein Kostenübernahmeanspruch nach SGB 9 § 102 Abs 4, SchwbAV § 17 Abs 1a nicht, denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber eine Besserstellung der schwerbehinderten Menschen gegenüber Nichtbehinderten beabsichtigt hat.

2. Nach SchwbAV § 18 Abs 2 Nr 2 setzt die Leistung an einen Schwerbehinderten voraus, dass es ihm wegen des behinderungsbedingten Bedarfs nicht zuzumuten ist, die erforderlichen Mittel aufzubringen. In den übrigen Fällen sind seine Einkommensverhältnisse zu berücksichtigen. Mit dieser Regelung, die im Jahre 1998 in die SchwbAV eingeführt wurde, wollte der Verordnungsgeber klarstellen, dass eine Kostenbeteiligung des Schwerbehinderten unzumutbar ist, wenn die Leistung wegen der Behinderung erforderlich ist.

3. Eine - im Rahmen der Ermessensentscheidung nach SchwbAV § 18 Abs 2 grundsätzlich mögliche -Ablehnung einer Leistung zum Ausgleich eines behinderungsbedingten Nachteils könnte etwa darauf gestützt werden, dass die Mittel bereits erschöpft sind oder, soweit entsprechende Mittel noch vorhanden sein sollten, dass die Gewährung einer Leistung an den Antragsteller zugunsten einer anderweitigen Mittelverwendung zurückgestellt wird.

Fundstellen

Behindertenrecht 2003, 195-197 (Leitsatz und Gründe)

1.2 Begriff des Arbeitsplatzes

Urteil des BVerwG zur begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben vom 14. November 2003

Nr: WBRE410010556

BVerwG 5. Senat Urteil vom 14. November 2003, Az: 5 C 13/02

SchwbG § 31 Abs 1, SchwbG § 7 Abs 1, SchwbG § 7 Abs 2 Nr 2, WRV Art 137

Geldleistungen für begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben an schwer behinderte Geistliche; Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertengesetzes

Leitsatz

Geldleistungen an Schwerbehinderte für technische Hilfen und zur Teilnahme an Maßnahmen zur Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten nach § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a und f SchwbG im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben setzen die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 7 SchwbG nicht voraus und können daher grundsätzlich auch Geistlichen öffentlich-rechtlicher Religionsgemeinschaften (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 SchwbG) bewilligt werden.

Fundstellen

KommunalPraxis BY 2004, 230-231 (Leitsatz)

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 29. März 2001 2 S 1565/00 Urteil vorgehend VG Stuttgart 25. Juni 1999 8 K 244/98 Urteil

Tatbestand

Die Klägerin ist wegen Blindheit schwer behindert mit einem Grad der Behinderung von 100. Sie begehrt Leistungen im Rahmen der begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben (§ 31 Abs. 3 SchwbG).

Seit 1981 ist die Klägerin Pfarrvikarin und Kirchenmusikerin bei der Evangelischen Landeskirche in W. (Beigeladene). Dabei handelt es sich seit 1992 um eine Vollbeschäftigung, bei der die Klägerin zu etwa 70 % theologische und zu 30 % musikalische Aufgaben erfüllt. Zu ihren Tätigkeiten gehört das Abhalten von Gottesdiensten, die Durchführung von Hausbesuchen, Beerdigungen sowie die Mitwirkung an anderen Veranstaltungen.

Mit Schreiben vom 18. November 1996 beantragte sie die Übernahme der Kosten für die technische Modernisierung ihrer bereits 1987 mit Mitteln des Beklagten geförderten blindengeeigneten PC-Anlage und legte hierzu einen Kostenvoranschlag in Höhe von rund 73 000 DM vor. Der Technische Dienst des Beklagten bestätigte aufgrund einer Arbeitsplatzbegehung, dass die in dem Kostenvoranschlag dargestellte Anlage notwendig sei, damit die Klägerin ihren Beruf weiterhin ausüben könne. Mit weiterem Schreiben vom 1. April 1997 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für die bereits durchgeführte Reparatur des Brailledruckers und legte hierzu eine Rechnung über 539 DM vor. Am 23. Juni 1997 beantragte sie die Übernahme der Kosten für die Teilnahme an einem Seminar zum Thema "Chorleitung".

Die Beklagte lehnte die Anträge ab, weil die Klägerin als Geistliche keinen "Arbeitsplatz" im Sinne des Schwerbehindertengesetzes innehabe; daher könnten auch keine Leistungen an sie erfolgen (Bescheid vom 15. September 1997).

Auf die nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1997) erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, über die Anträge der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (Urteil vom 14. Juni 1999). Die Klägerin gehöre zu den Schwerbehinderten im Sinne von § 1 SchwbG. Ein Leistungsausschluss sei nicht damit begründet, dass sie als Geistliche beschäftigt sei. Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung gehe es um die Eingliederung von Schwerbehinderten durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen. Diese Zielsetzung werde auch dort erreicht, wo Schwerbehinderte auf Stellen beschäftigt seien, die im Sinne des § 7 Abs. 2 SchwbG nicht als "Arbeitsplätze" gelten würden. Beschäftige etwa die Religionsgemeinschaft schwer behinderte Geistliche, so trage dies dem Schutz- und Integrationsanliegen des Schwerbehindertenrechts unbeschadet der Privilegierung solcher Arbeitgeber genauso Rechnung, wie dies bei bestehender Beschäftigungspflicht der Fall wäre. Gründe, die eine sachliche Differenzierung der beiden Sachverhalte zum Nachteil des Schwerbehinderten rechtfertigen könnten, seien nicht ersichtlich. Der Verwaltungsgerichtshof hingegen hat auf die Berufung des Beklagten die Klage in entsprechender Abänderung des erstinstanzlichen Urteils abgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt:

Die von der Klägerin begehrte begleitende Hilfe nach § 31 Abs. 3 Nr. 1 SchwbG sei typischerweise arbeitsplatzgebunden. Konkrete technische Arbeitsmittel könnten nur dann in den Blick genommen werden, wenn es um die Ausgestaltung eines konkreten Arbeitsplatzes gehe. Erforderlich sei daher, dass der Betroffene auf einem Arbeitsplatz beschäftigt sei und dass dieser Arbeitsplatz von der Geltung des Schwerbehindertengesetzes umfasst sei. In § 7 Abs. 2 Nr. 2 SchwbG sei jedoch geregelt, dass Stellen, auf denen Geistliche öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften beschäftigt würden, nicht als "Arbeitsplätze" im Sinne des Schwerbehindertengesetzes gelten. Dies treffe für die Klägerin zu. Ihr Beschäftigungsverhältnis werde aufgrund ihrer Tätigkeit als Pfarrvikarin im Wesentlichen von ihrer Pflichtenstellung als Geistliche bestimmt. Soweit sie daneben Aufgaben im Rahmen der Kirchenmusik wahrnehme, nehme sie dies nicht von ihrem geistlichen Amt aus. Die verfassungsrechtlich begründete Sonderstellung der Kirchen, die durch die Trennung vom Staat, ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre im Bereich des Kirchenamtes bestehende Autonomie gekennzeichnet werde, sei der sachlich tragende Grund für die Nichtberücksichtigung der Geistlichen bei der Frage, ob sie auf einem "Arbeitsplatz" im Sinne des Schwerbehindertengesetzes beschäftigt seien.

Mit der hiergegen eingelegten Revision rügt die Klägerin sinngemäß eine Verletzung des § 31 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a und f SchwbG. Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die Beigeladene unterstützt die Auffassung der Klägerin.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin, über die das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Es verstößt gegen Bundesrecht, dass das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin auf begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben nach § 31 SchwbG mit der Begründung verneint hat, die von der Klägerin begehrte Hilfe setze die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertengesetzes voraus, was bei der Klägerin gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 SchwbG nicht der Fall sei. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen und damit zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils, in welchem der Beklagte verpflichtet worden ist, erneut über die Anträge der Klägerin zu entscheiden.

Als Schwerbehinderte gemäß § 1 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz - SchwbG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986, BGBl I S. 1421, 1550, zuletzt geändert durch Art. 20 des Gesetzes vom 20. Dezember 2000, BGBl I S. 1827) gehört die Klägerin zum geschützten Personenkreis des Gesetzes, dessen volle Bezeichnung bereits auf einen umfassenden Anwendungsbereich hindeutet.

Der geltend gemachte Förderungsanspruch der Klägerin beurteilt sich nach § 31 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a und f SchwbG. Für die Anwendung dieser Vorschrift kommt es nicht darauf an, dass das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz im Wesentlichen von ihrer Pflichtenstellung als Geistliche bestimmt wird, so dass ihre Stelle nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 SchwbG nicht als Arbeitsplatz gilt. Zur Umschreibung der Voraussetzungen der begehrten Hilfe verwenden § 31 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a und f SchwbG nicht den Begriff des "Arbeitsplatzes", sondern - entsprechend den Worten "Arbeit, Beruf" in der Gesetzesüberschrift - den weiten Begriff des "Arbeits- und Berufslebens". Nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 SchwbG obliegt der Hauptfürsorgestelle "die begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben"; nach Abs. 3 Satz 1 dieser Bestimmung kann sie "im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben aus den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln auch Geldleistungen erbringen", und zwar "insbesondere" u.a. gemäß Nr. 1 "an Schwerbehinderte a) für technische Arbeitshilfen" sowie f) "zur Teilnahme an Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten ...". Der Wortlaut der genannten Bestimmungen setzt das Vorliegen eines "Arbeitsplatzes" im Sinne des § 7 Abs. 1 SchwbG nicht voraus; den Einzelregelungen, insbesondere auch Nr. 1 Buchst. c (Hilfen zur Gründung und Erhaltung einer selbständigen beruflichen Existenz), ist nicht zu entnehmen, dass das Vorliegen eines Arbeitsplatzes im Sinne des § 7 Abs. 1 SchwbG bzw. die Versorgung mit einem solchen generell rechtliche Voraussetzung oder Ziel einer Hilfe durch Geldleistungen wäre; in den Fällen gemäß Buchst. c liefe dies dem ausdrücklichen Hilfeziel der beruflichen Verselbständigung zuwider.

Auch in der Systematik der Bestimmung der "Aufgaben der Hauptfürsorgestelle" (§ 31 SchwbG) kommt eine Begrenzung der begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben auf die Versorgung Schwerbehinderter mit "Arbeitsplätzen" nicht zum Ausdruck. Soweit nach Abs. 2 Satz 2 dieser Bestimmung darauf hingewirkt werden soll, dass Schwerbehinderte auf "Arbeitsplätzen" beschäftigt werden, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Kenntnisse voll verwerten und weiterentwickeln können sowie befähigt werden, "sich am Arbeitsplatz ... zu behaupten", und soweit der durch Gesetz vom 29. September 2000 (BGBl I S. 1394) eingefügte § 31 Abs. 2 Satz 3 SchwbG die Zuständigkeit der Hauptfürsorgestelle auch für befristete Voll- und für Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse von mindestens 15 Stunden wöchentlich und damit gerade unabhängig von den nach § 7 Abs. 3 SchwbG engeren Voraussetzungen für einen Arbeitsplatz bestimmt, lässt dies entgegen der Auffassung der Beklagten nicht den Schluss zu, dass damit generell für alle in Abs. 3 unter Nr. 1 ausdrücklich genannten Formen der begleitenden Hilfe im Arbeits- und Berufsleben vom Arbeitsplatzbegriff des § 7 SchwbG auszugehen wäre.

Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ist Derartiges auch dem Urteil des Senats vom 8. März 1999 - BVerwG 5 C 5.98 - (Buchholz 436.61 § 7 SchwbG Nr. 4) betreffend Geldleistungen an Arbeitgeber zur behinderungsgerechten Einrichtung von Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte nicht zu entnehmen. Dieses Urteil befasst sich mit Blick auf Leistungen an Arbeitgeber gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a SchwbG i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SchwbAV "für die behinderungsgerechte Einrichtung von Arbeitsplätzen für Schwerbehinderte" mit der Stellung von Personen, die als Organmitglieder juristischer Personen selbst Arbeitgeberfunktionen ausüben, enthält aber keine auf die Hilfen an Schwerbehinderte übertragbaren generellen Aussagen unter dem Gesichtspunkt der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 SchwbG auch im Rahmen des § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SchwbG.

Die Tätigkeit der Klägerin als Pfarrvikarin und Kirchenmusikerin bei der Beigeladenen ist auch nicht von Verfassungs wegen von dem in § 31 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SchwbG angesprochenen Rechtsbereich des "Arbeits- und Berufslebens" auszunehmen. Zwar ist für Geistlichenämter streitig, ob sie dem Schutzbereich des Art. 12 GG oder dem der Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) zuzurechnen sind (zur dogmatischen Einordnung der Geistlichenberufe vgl. Scholz in: Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12, Rn. 157 - 159) und wird insbesondere für katholische Geistliche die Auffassung vertreten, auf diese sei das Schwerbehindertengesetz nicht anwendbar, denn es gebe keinen staatlich regulierbaren "Arbeitsmarkt" für katholische Geistliche und hier würden nicht "Stellen besetzt", sondern es werde "ein Sakrament gespendet" (vgl. Rüthers in Festschrift für Wilhelm Herschel, 1982, S. 351 ff. <365>). Nach dem gegebenen sozialen Schutzzweck des Schwerbehindertengesetzes, dessen § 1 Geistliche nicht vom personalen Anwendungsbereich des Gesetzes ausnimmt, ist für die Förderansprüche einzelner Schwerbehinderter indes vorrangig darauf abzustellen, dass eine Tätigkeit dem Arbeits- und Berufsleben zuzurechnen ist. Dies ergibt sich rechtlich daraus, dass § 7 Abs. 2 SchwbG Geistliche nur für den Begriff des Arbeitsplatzes ausnimmt, nicht aber für die Einordnung ihrer Tätigkeit in das Berufs- und Arbeitsleben. Jedenfalls für die Stelle der Klägerin bei der Beigeladenen sind rechtliche Zweifel daran, dass es sich um eine berufliche Tätigkeit und damit um eine Tätigkeit auf dem Gebiet des Arbeits- und Berufslebens handelt, weder kirchlicherseits (von der Beigeladenen) vorgetragen noch sonst ersichtlich. Eine den Wortlaut einengende Auslegung des Begriffs des "Arbeits- und Berufslebens" gebietet auch nicht der verfassungsrechtliche Status der Religionsgesellschaften, der gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 und 5 WRV die kirchliche Ämterautonomie im Sinne einer Freistellung von staatlicher Einflussnahme auf die Besetzung und Ausgestaltung kirchlicher Ämter gewährleistet und - wie die Vorinstanz zutreffend feststellt - den tragenden Grund für die Freistellung der Kirchen von der Beschäftigungspflicht (§ 5 SchwbG) und der Ausgleichsabgabe (§ 11 SchwbG) für ihre geistlichen Ämter bildet. Einen unzulässigen staatlichen Eingriff in den innerkirchlichen Autonomiebereich durch die begehrte Förderung vermag der Senat nicht zu erkennen. Eine Hilfegewährung berührte nicht Bereiche, die staatlicher Beeinflussung - auch durch Hilfeleistungen - von vorneherein verschlossen wären. Eine Förderung unter Verstoß gegen innerkirchliches Recht oder dem kirchlichen Selbstverständnis zuwider vermag der Senat um so weniger zu erkennen, als die Beigeladene das Begehren der Klägerin befürwortet. Da es sich bei der Modernisierung der blindengeeigneten PC-Anlage der Klägerin und der Reparatur des Brailledruckers nach den Feststellungen des Beklagten um förderungsfähige technische Hilfen im Sinne des § 31 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a SchwbG und bei der Teilnahme an dem Seminar "Chorleitung" um eine Teilnahme an Maßnahmen zur Erhaltung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten im Sinne der Nr. 1 Buchst. f handelt und die Klägerin mit ihrer Tätigkeit "im Arbeits- und Berufsleben" steht, sind die gesetzlichen Voraussetzungen der Hilfegewährung gegeben.

Auch aus dem Wesen der Schwerbehindertenabgabe als einer Sonderabgabe, der die beigeladene Landeskirche für ihre Geistlichenstellen nicht unterliegt, folgt nicht, dass die Ausstattung des Arbeitsplatzes (im funktionalen Sinne) der Klägerin und die Förderung ihrer beruflichen Tätigkeit aus Mitteln der Ausgleichsabgabe unter abgaberechtlichen Gesichtspunkten wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unzulässig wäre. Die im Urteil zur Berufsausbildungsabgabe (BVerfGE 55, 274) verlangte gruppennützige Verwendung des Aufkommens einer Sonderabgabe im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen, die hier wegen der Ausnahme der Geistlichenstellen von der Ausgleichsabgabe zweifelhaft sein könnte, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes über die Pflichtplatzquote sowie über die Ausgestaltung und Verwendung der Ausgleichsabgabe (BVerfGE 57, 139) modifiziert: Diese Anforderungen beträfen "ersichtlich nur solche Abgaben, bei denen ... das Aufkommen zumindest primär zur Finanzierung vom Gesetz bestimmter Zwecke dient", was bei solchen Abgaben nicht uneingeschränkt gelte, "bei denen nicht die Finanzierung einer besonderen Aufgabe Anlass zu ihrer Einführung gab" (a.a.O. S. 167), sondern die Finanzierungsfunktion hinter anderen Funktionen zurücktrete. Dies sei bei der Ausgleichsabgabe der Fall, bei der es primär auf Antriebs- und Ausgleichsfunktion ankomme (a.a.O. S. 168 f.).

Die Frage, ob und inwieweit der Beklagte bei seiner Ermessensentscheidung über die Verwendung der ihm nur in begrenztem Ausmaß zur Verfügung stehenden Mittel auch berücksichtigen kann, in welchem Ausmaß die Beigeladene sich bei der Beschäftigung Schwerbehinderter auf Geistlichenstellen mit eigenen Mitteln an der Realisierung der Ziele des Schwerbehindertengesetzes beteiligt, hat der Senat nicht zu entscheiden.

1.3 Schadensersatz wegen der Nichtberücksichtigung der Bewerbung eines Schwerbehinderten

Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 03.10.03

Nr: KARE600010593

ArbG Berlin 91. Kammer Urteil vom 10. Oktober 2003, Az: 91 Ca 17871/03

SGB 9 § 81 Abs 2 Nr 1 S 3, SGB 9 § 82 S 2, SGB 9 § 82 S 3

Bewerbung - Benachteiligung - Schwerbehinderung - öffentlicher Dienst

Leitsatz

Wird ein Schwerbehinderter entgegen § 82 Satz 2 SGB IX (Juris: SGB 9) auf seine Bewerbung auf eine von einem öffentlichen Arbeitgeber ausgeschriebene Stelle nicht zum Vorstellungsgespräche geladen, obwohl ihm die fachliche Eignung für die zu besetzende Stelle nicht offensichtlich fehlt, begründet dies die Vermutung der Benachteiligung wegen der Behinderung im Sinne von § 81 Abs 2 Ziffer 1 Satz 3 SGB IX.

Fundstellen

Weitere Fundstellen

EzA-SD 2004, Nr 19, 15 (Leitsatz 1)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger
12.636,27 EUR (zwölftausendsechshundertsechsunddreißig 27/100)
nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 24.7.2003 zu zahlen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 12.636,27 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über den Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz wegen der Nichtberücksichtigung der Bewerbung des Klägers.

Der 1956 geborene, schwer behinderte Kläger hat ein abgeschlossenes Hochschulstudium und ist promoviert.

Seit 1991 arbeitet der Kläger bei der B A als Berater für Rehabilitanten und Schwerbehinderte. Der Kläger verfügt über berufskundliche Kenntnisse und hat eine Veröffentlichung zum Thema "Berufliche Eingliederung von Lernbehinderten - Handreichung für Lehrer, Eltern und Betreuer" herausgegeben. Aufgabe des Klägers war es Rehabilitanten und Schwerbehinderte, darunter seit Oktober 2001 auch verstärkt Erwachsene, bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu unterstützen.

Am 12.01.2003 schrieb die Beklagte eine Stelle als Berufskundlicher Berater aus. Bezüglich der Anforderungen der Stelle wird auf die eingereichte Kopie der Stellenausschreibung, Blatt 7 der Akte, Bezug genommen.

Die Bewerbung des Klägers auf diese Stelle vom 15.01.2003, in der er u. a. auf seine Schwerbehinderung hinwies, wurde von der Beklagten mit Schreiben vom 02.04.2003, Blatt 8 der Akte, unter dem Hinweis, dass die Bewerbung des Klägers nicht in die engere Auswahl genommen worden sei, abgelehnt, ohne dass die Beklagte den Kläger zuvor zu einem Bewerbungsgespräch geladen hatte. Daraufhin machte der Kläger durch Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 23.05.2003, Blatt 11 der Akte, wegen der Ablehnung seiner Stellenbewerbung einen Anspruch auf Entschädigung geltend.

Eingestellt für die ausgeschriebene Stelle wurden zwei ehemalige Personaldisponenten eines Personal-Dienstleistungsunternehmens.

Der Kläger hätte auf der ausgeschriebenen Stelle ein Bruttomonatsgehalt in Höhe von 4.212,09 Euro erzielt.

Der Kläger ist der Ansicht, dass er gegenüber den tatsächlich genommenen Bewerbern der geeignetere Bewerber sei, da die Stelle förmlich auf seine Qualifikation zugeschnitten sei. Daher stehe ihm ein Schadensersatzanspruch nach § 81 Abs. 2 SGB IX zu.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zur Zahlung einer angemessenen Entschädigung, deren Höhe im
Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst 5 % Zinsen über dem
Basiszinssatz ab dem 24.07.2003 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass dem Kläger die Eignung offensichtlich im Sinne von § 82 Satz 3 SGB IX fehle, da Zielgruppe der klägerischen Tätigkeit junge behinderte Menschen im Übergang von der Schule in den Beruf gewesen seien. Bei ihrer Klientel hingegen handele es sich in aller Regel um berufs- und lebenserfahrene Versicherte im fortgeschrittenen Lebensalter. Die Fach- und Sachkunde der gesuchten Berufskundlichen Berater bezögen sich daher im Gegensatz zu der des Klägers auf die Erwerbsmöglichkeiten von berufserfahrenen Versicherten unter in der betrieblichen Praxis tatsächlichen vorherrschenden Verhältnisse, ohne dass für die Ausübung dieser Erwerbsmöglichkeiten noch weitere, unterstützende Hilfen am potentiellen Arbeitsplatz erforderlich werden.

Gerade über diese Kenntnisse verfügten im Gegensatz zum Kläger die berücksichtigten Bewerber.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen diesen gewechselten Schriftsätzen nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung wegen dessen Benachteiligung bei der Begründung eines Arbeitsverhältnisses nach § 81 Abs. 2 Ziffer 2 SGB IX.

1.1 Die Verletzung der Verpflichtung der Beklagten, den Kläger nach § 82 Satz 2 SGB IX zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, lässt eine Benachteiligung des Klägers nach § 81 Abs. 2 Ziffer 1 Satz 3 SGB IX vermuten.

Der Kläger hat im Rahmen seiner schriftlichen Bewerbung auf die von der Beklagten ausgeschriebene Stelle auf seine Schwerbehinderung hingewiesen und ist von dieser entgegen § 82 Satz 2 SGB IX nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden.

Entgegen der Ansicht der Beklagten war die Einladung des Klägers zum Vorstellungsgespräch nicht nach § 82 Satz 3 SGB IX entbehrlich.

Danach ist die Einladung eines schwer behinderten Bewerbers entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Offensichtlich bedeutet unzweifelhaft. Damit ist die Einladung zu einem Bewerbungsgespräch entbehrlich, wenn der Bewerber unter keinem Gesichtspunkt für die ausgeschriebene Stelle geeignet erscheint. Unstreitig zwischen den Parteien ist aber, dass der Kläger über einen in der Stellenausschreibung gefordertes Fachhochschulstudium verfügt, er Kenntnisse über das schulische und berufliche Bildungssystem hat, er über eine einwandfreie mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit verfügt, was von der Beklagten im Übrigen hätte im Bewerbungsgespräch überprüft werden können, und dass er berufskundliche und rechtliche Sachverhalte schriftlich darzulegen vermag, was der Kläger durch seine Veröffentlichung bewiesen hat und bestritten werden auch nicht selbständige Arbeitsweise und Teamfähigkeit des Klägers. Darüber hinaus verfügt der Kläger über umfassende Kenntnisse und praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Berufskunde. Als Berater für Rehabilitanten und Schwerbehinderte oblag es dem Kläger, den Arbeitsmarkt im Hinblick auf die Beschäftigungsmöglichkeiten für seine Klientel zu beobachten und diese in Fragen der Berufswahl zu beraten, was zwangsläufig Kenntnisse der verschiedenen Berufsmöglichkeiten beinhaltet.

Diese berufskundlichen Kenntnisse werden von der Beklagten im Ergebnis auch nicht bestritten, jedoch meint diese, dass der Kläger aufgrund der von ihr behaupteten Spezialisierung auf die Berufsberatungstätigkeit für junge behinderte Menschen ungeeignet sei. Ob der Kläger schwerpunktmäßig junge behinderte Menschen bei der Integration ins Arbeitsleben unterstützt hat, kann dahingestellt bleiben, da die Beratung von Behinderten auch die Beratung von älteren Behinderten umfasst und eine Ausschließlichkeit auf die Vermittlung junger Menschen nicht zu erkennen ist. Genauso wenig ist zu erkennen, wie hierdurch die Kenntnisse des Klägers auf nur bestimmte Berufsfelder begrenzt sein können, da Leistungseinschränkungen aufgrund einer Behinderung derart vielgestaltig sein können, dass eine Einschränkung auf lediglich bestimmte Berufe ebenfalls nicht ersichtlich ist.

Verfügt der Kläger damit um weitreichende Kenntnisse und aufgrund seiner Tätigkeit auch praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der Berufskunde, so ist er zumindest nicht unzweifelhaft und damit offensichtlich für die von der Beklagten ausgeschriebenen Stelle ungeeignet, so dass er nach § 82 Satz 2 SGB IX zu dem Bewerbungsgespräch hätte geladen werden müssen.

Dabei ist auch unerheblich, dass evtl. geeignetere Bewerbungen bei der Beklagten vorliegen, da die Notwendigkeit zur Einladung eines Bewerbungsgespräches des Schwerbehindertenbewerbers allein entfällt, wenn dieser offensichtlich nicht geeignet ist, ungeachtet seiner Eignung im Vergleich zu anderen Bewerbern.

Ist danach festzustellen, dass die Beklagte als öffentlicher Arbeitgeber gegen die Vorschrift des § 82 SGB IX verstoßen hat, so begründet nach Auffassung der Kammer allein der Verstoß gegen § 82 SGB IX die Annahme der Benachteiligung aufgrund der Behinderung nach § 81 Abs. 2 Ziffer 1 Satz 3 SGB IX. Dabei lässt sich die Kammer auch davon leiten, dass anderenfalls eine Verletzung der Verpflichtung aus § 82 SGB IX ohne

Konsequenzen für den Verpflichteten wäre, da diese nicht von den Bußgeldvorschriften des § 156 SGB IX erfasst wird.

1.2 Besteht danach die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner Schwerbehinderung bei der Einstellung benachteiligt worden ist, so vermochte die hierfür nach § 81 Abs. 2 Ziffer 1 Satz 3 SGB IX darlegungs- und beweispflichtige Beklagte Tatsachen dafür, dass nicht auf die Behinderung bezogene, sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen nicht darzulegen.

Soweit die Beklagte die Qualifikation des Klägers damit bestreitet, dass dieser primär mit der Eingliederung Jugendlicher zu tun gehabt habe, wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beklagte selbst führt aus, dass der Berufskundler die Rentendezernate über Erwerbsmöglichkeiten der Rentenantragsteller berät. Rentenantragsteller können aber nach § 43 SGB VI auch die Versicherten sein, die wegen ihrer Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dabei differenziert § 43 SGB VI nicht nach dem Alter der Antragsteller, so dass potentielle Antragsteller auch die, nach Behauptung der Beklagten, überwiegend vom Kläger betreute Klientel sein kann.

Vermochte die Beklagte nicht nachvollziehbar darzulegen, aufgrund welcher sachlichen Gründe sie die Bewerbung des Klägers nicht berücksichtigt hat,

so ist sie diesem gegenüber grundsätzlich zur Zahlung einer Entschädigung nach § 81 Abs. 2 Ziffer 2 und 3 SGB IX verpflichtet.

1.3 Der Anspruch des Klägers richtet sich nach § 81 Abs. 2 Ziffer 2 SGB IX, da die Beklagte auch nicht darzulegen vermochte, dass die beiden anstelle des Klägers genommenen Bewerber qualifizierter waren als dieser.

Die Beklagte trägt hierzu lediglich vor, dass die beiden eingestellten Mitbewerber des Klägers zuvor Personaldisponenten waren. Zwar mögen sie aufgrund dieser Tätigkeit berufskundliche Kenntnisse haben, jedoch ist nicht ersichtlich, dass diese umfassender als die des Klägers sind. Der Kläger verfügt aufgrund seiner bisherigen Tätigkeit auch über Kenntnisse im Rentenrecht, wohingegen vollkommen offen ist, in wie weit derartige Kenntnisse die von der Beklagten bevorzugten Bewerber haben. Da mithin nicht zu erkennen ist, dass diese gegenüber dem Kläger qualifizierter waren, ist davon auszugehen, dass der Kläger, wäre seine Bewerbung berücksichtigt worden, diesen gegenüber bevorzugt Einzustellen gewesen wäre.

Bei der Höhe der Entschädigung nach § 81 Abs. 2 Ziffer 2 SGB IX für den Bestqualifizierten war von mindestens drei Monatsverdiensten auszugehen, da dieses die Höchstgrenze der Entschädigung nach § 81 Abs. 2 Ziffer 3 SGB IX für den weniger qualifizierten Bewerber darstellt. Da der Kläger sich jedoch aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus beworben hat und in Folge dessen ein weitergehender materieller Schaden ihm durch entgangenen Verdienst nicht entstanden ist, sah die Kammer sich auch

nicht veranlasst, bei der Höhe der Entschädigung von dem Mindestsatz von drei Monatsgehältern nach oben abzuweichen.

2. Aufgrund ihres Unterliegens hat die Beklagte gem. § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreites zu tragen.
Für den festzusetzenden Streitwert war die Höhe der zugesprochenen Entschädigung maßgeblich.

2.1 Behinderung

Für das Sozialrecht ist der Begriff der "Behinderung" von zentraler Bedeutung. Er ist in § 2 SGB IX festgelegt. Dieser lautet:

"§ 2 Behinderung

(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.

(2) Menschen sind im Sinne des Teils 2 (SGB IX) schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben."

Zunächst fällt auf, dass in Abs. 2 von "Schwerbehinderten" die Rede ist. Die hier getroffenen weiteren Anforderungen sind für Hilfen nach Teil 2 des SGB IX (Schwerbehindertenrecht), insbesondere für den besonderen Schutz im Arbeitsleben, von Bedeutung. Vgl. dazu Heft 05.

Der Begriff der Behinderung, wie er in Abs. 1 beschrieben ist, folgt der international anerkannten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1980. Danach wird die Behinderung aus drei miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Faktoren (dreigliedriger Behinderungsbegriff) abgeleitet: Den Ausgangspunkt bildet ein gesundheitlicher Schaden, welcher im internationalen Sprachgebrauch der WHO als "Impairment" bezeichnet wird. Darunter ist jeder Verlust oder jede Abnormität psychologischer, physiologischer oder anatomischer Strukturen oder Funktionen zu verstehen. Zweiter Faktor ist eine Funktionsbeeinträchtigung (Disability) als Folge dieses Schadens, also jede Einschränkung oder jeder Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, welche für einen Menschen als normal angesehen werden

Drittes Kriterium der Behinderung im Sinne dieser Definition bildet die soziale Beeinträchtigung (Handicap), mit welcher die jeweiligen Auswirkungen von Schaden und Funktionsbeeinträchtigung umschrieben werden. Hierunter fallen zunächst persönliche Folgen im Hinblick auf Unabhängigkeit, Beweglichkeit, Freizeitaktivitäten, Integrationsfähigkeit sowie wirtschaftliche und berufliche Möglichkeiten des Betroffenen. Daneben werden auch familiäre Folgen wie Pflegebedarf, gestörte familiäre Beziehungen und wirtschaftliche Belastungen für die Familie erfasst. Schließlich bezieht sich das Handicap auch auf gesellschaftliche Folgen wie Fürsorgebedürftigkeit und insbesondere auch Störungen der sozialen Eingliederung

Dieser Behindertenbegriff war und ist weiterhin Gegenstand eingehender Diskussionen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat im Jahr 2001 den Behinderungsbegriff in der ICIDH-2 (International Classification of Functioning, Disability and Health) weiterentwickelt und wie folgt neu gefasst:

  1. Schädigung: Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur im Sinn einer wesentlichen Abweichung oder eines Verlustes,
  2. Beeinträchtigung der Aktivität: Aus der Schädigung resultierende Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, eine Aufgabe oder Tätigkeit durchzuführen,
  3. Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe): Ein nach Art und Ausmaß bestehendes Problem einer Person bezüglich ihrer Teilhabe in einem Lebensbereich bzw. einer Lebenssituation,
  4. Umweltfaktoren: Sie beziehen sich auf die physikalische, soziale und Einstellungsbezogene Umwelt, in der die Menschen ihr Leben gestalten.

Unter Berücksichtigung der Diskussion um die Weiterentwicklung der "Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" (ICF) der Weltgesundheitsorganisation ist dabei auf die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (Partizipation) abzustellen. Dieser Behindertenbegriff wird zwar häufig als zu defizitär beanstandet. Auf eine Anknüpfung an gesundheitliche Beeinträchtigungen sollte aber auch künftig nicht verzichtet werden.

Eine Beeinträchtigung wird erst dann als Behinderung betrachtet, wenn sie voraussichtlich länger als 6 Monate andauern wird.

2.2 Blindheit

Eine Form der Schwerbehinderung ist die Blindheit.

Definitionen

Unter Blindheit wird nicht nur Lichtlosigkeit (Amaurose) verstanden. Vielmehr müssen auch weitere Sehbeeinträchtigungen berücksichtigt werden, die in ihrer Auswirkung der Lichtlosigkeit gleichzuachten sind. In der Wissenschaft haben sich verschiedene Definitionen für die Blindheit herausgebildet, die jeweils vom Zweck her bestimmt worden sind. So wird für den sonderpädagogischen Förderbedarf von einem pädagogischen Blindheitsbegriff gesprochen. Auf die Beeinträchtigung im Bereich der Orientierung geht der Begriff der "Orientierungsblindheit" zurück (zu den verschiedenen Blindheitsbegriffen und ihre Entwicklung vgl. Demmel: Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung S. 212 ff.).

Vor allem im Zusammenhang mit dem Sozialrecht war es notwendig, einen "juristischen Blindheitsbegriff" zu entwickeln. Nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), dem Teil 2 des neunten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) und dem Einkommensteuergesetz (EStG) sowie dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) muss die Frage beantwortet werden, ob Blindheit vorliegt. Der Begriff ist besonders für das Blindengeldrecht im SGB 12 und in den Landesblindengeldgesetzen von Bedeutung.

Eine gesetzliche Bestimmung enthält § 72 Abs. 5. SGB 12. § 72 SGB 12 regelt die Blindenhilfe nach dem Sozialhilferecht (vgl. H. 6 dieser Schriftenreihe).

§ 72 Abs. 5 lautet: "(5) Blinden Menschen stehen Personen gleich, deren beidäugige Gesamtsehschärfe nicht mehr als ein Fünfzigstel beträgt oder bei denen dem Schweregrad dieser Sehschärfe gleichzuachtende, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens vorliegen.".

Hier wird nur gesagt, welche Sehbeeinträchtigungen der Blindheit gleichzuachten sind. Damit wird, ohne das zum Ausdruck zu bringen, von der Blindheit als Lichtlosigkeit ausgegangen.

In den Landesblindengeldgesetzen wird entweder auf diese Bestimmung verwiesen oder sie enthalten eigene, inhaltlich gleiche Definitionen.

Es handelt sich um medizinische Merkmale. Um zu einer einheitlichen Beurteilung zu kommen, werden für die Feststellung der Blindheit die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Stand 2004, (hrsg. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung) herangezogen.

Der Begriff der Blindheit wird in Nr. 23 der AHP wie folgt definiert:

Blind ist der behinderte Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch der behinderte Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe (siehe Nummer 26.4) auf keinem Auge und auch nicht bei beidäugiger Prüfung mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzuachten sind.

Eine der Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,02 (1/50) oder weniger gleichzusetzende Sehbehinderung liegt nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (siehe auch AHP Nummer 26.4) bei folgenden Fallgruppen vor:

Blind ist auch der behinderte Mensch mit einem nachgewiesenen vollständigen Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit), nicht aber mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen.

Wichtige Merkmale sind also die Sehschärfe und das Gesichtsfeld. Die Sehschärfe wird dabei in einem Bruch angegeben. Eine Sehschärfe von 1/50 besagt, dass zwei Punkte in einem Abstand von 50 Winkelminuten erkannt werden. Bei einer Sehschärfe von 1/10 werden zwei Punkte in einem Abstand von 10 Winkelminuten erkannt. Vergröbernd ausgedrückt kann man auch sagen: Wer über eine Sehschärfe von 1/50 verfügt, kann Gegenstände erst in einem Abstand von 1 M. sehen, die bei normaler Sehschärfe in einem Abstand von 50 M. erkannt werden.

Bei der Beurteilung, ob Blindheit vorliegt, dürfen jedoch nicht nur die Sehschärfe und die Gesichtsfeldeinschränkung herangezogen werden. Vielmehr müssen "alle Störungen des Sehvermögens" Berücksichtigung finden. So sind neben den Funktionen des Sehorgans nachweisbare Reizerscheinungen, Tränenträufeln, Empfindlichkeit gegen äußere Einwirkungen (Licht, Staub, Chemikalien usw.) sowie sonstige Erkrankungen des Auges und seiner Umgebung zu beachten. Das bedeutet, dass beim Vorliegen solcher Störungen selbst beim Überschreiten der oben angegebenen Werte Blindheit bejaht werden kann. Es muss jedoch eine Störung der Sehfunktion vorliegen.

Rindenblindheit - Visuelle Agnosie

Eine der schwierigsten Fragen ist, ob Blindheit beim Vorliegen einer optischen Agnosie gegeben sein kann. Blindheit kann nur angenommen werden, wenn die Sehbeeinträchtigung auf einem Defekt des optischen Apparates beruht bzw. in der Verarbeitung optischer Reize ihre Ursache hat. Andere hirnorganische Störungen sind nicht zu berücksichtigen.

Weil der Sehapparat aus Auge, Sehnerven und Sebzentrum der Gehirnrinde besteht, wird bei vollständigem Ausfall der Sehrinde (Rindenblindheit) übereinstimmend Blindheit bejaht. Die "Rindenblindheit" ist die Folge einer Schädigung der primären Sehrinde in dem Hinterhauptlappen des Gehirns, wie er z. B. nach beidseitigem arteriellem Verschluss der arteria cerebri posterior vorkommt.

Die Frage ist, inwieweit Blinden auch Personen gleichgestellt werden können, die bei erhaltener optischer Funktion visuelle Reize nicht oder nur ungenügend verwerten können, wenn also eine "optische Agnosie" vorliegt. Nach Nr. 23 (4) AHP soll Blindheit bei Personen "mit einer visuellen Agnosie oder anderen gnostischen Störungen" nicht gegeben sein (s. o.). Dem Ausschluss der Berücksichtigung jeder Form der optischen Agnosie bei der Beurteilung, ob Blindheit zu bejahen ist, kann nicht zugestimmt werden. Ausschlaggebend muss sein, ob das trotz eines, zumindest teilweisen intakten Sehapparates, Wahrgenommene erkannt werden kann (Erkennungsstörung) oder ob ein Gegenstand zwar wahrgenommen, aber nur nicht richtig identifiziert, also benannt werden kann (Benennungsstörung). Das Sehen besteht aus wahrnehmen und erkennen. Wenn Wahrgenommenes nicht erkannt wird, kann nicht angemessen reagiert werden. Wenn z.B. ein Hindernis in einem Weg nicht als Hindernis erkannt wird, kann nicht ausgewichen werden. Wird demgegenüber ein Hindernis wahrgenommen, aber der Betroffene kann aufgrund einer geistigen Störung nicht identifizieren, ob es sich z. B. um einen Stuhl oder einen Tisch handelt, welcher im Weg steht, und welchem er ausweichen will, dann handelt es sich um eine Benennungsstörung. Eine angemessene Reaktion, nämlich das Ausweichen, ist möglich. Blindheit liegt nicht vor. Diese Auffassung entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Das BSG hat in seinem Urteil vom 31. 01. 1995 - 1 RS 1/93 - (SozR 3-5920 § 1 Nr. 1), das zu § 1 Abs. 3 Nr. 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 (saarländisches Blindengeldgesetz) ergangen ist, entschieden, dass ein Anspruch auf Blindenhilfe auch dann bestehe, also Blindheit vorliege, wenn Störungen des Sehvermögens, z. B. infolge einer Optikusschädigung, mit cerebralen visuellen Verarbeitungsstörungen in einer Weise zusammenwirken, dass die Störung des Sehvermögens in ihrem Schweregrad insgesamt einer Sehschärfenbeeinträchtigung im Sinn von § 1 Abs. 3 Nr. 1 des saarländischen Gesetzes Nr. 761 (nicht mehr als 1/50) gleichzuachten ist. In einem solchen Fall liegt "faktische" Blindheit vor. Zu weiteren Einzelheiten und Hinweisen auf die Rechtsprechung vgl. Demmel: Die Entwicklung und Bedeutung der öffentlichen Blindengeldleistung als Sozialleistung S. 222 ff.

Dauer der Sehschädigung

Unter einer "nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens", wie es in § 72 Abs. 5 SGB 12 heißt, wird ein Zeitraum von mindestens 6 Monaten verstanden. Dieser Zeitraum muss für die Feststellung der Blindheit oder Sehbehinderung nicht erst abgewartet werden. Es genügt vielmehr, wenn die Behinderung nach der medizinischen Erfahrung "mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate" andauert (vgl. SGB 9 § 2 Abs. 1).

Befunderhebung

Zur Befunderhebung wird in den AHP Nr. 8 (15) bestimmt:

"(15) Für die Beurteilung der Sehbehinderung ist in erster Linie die korrigierte Sehschärfe (Prüfung mit Gläsern) maßgebend. Die Sehschärfe ist grundsätzlich nach DIN 58220 zu prüfen, in Ausnahmefällen (z.B. bei Bettlägerigkeit oder Kleinkindern) ist analog zu verfahren. Die übrigen Partialfunktionen des Sehvermögens sind nur mit Geräten und Methoden zu prüfen, die den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) entsprechend eine einwandfreie gutachtliche Beurteilung erlauben. Bei der Gesichtsfeldbestimmung dürfen nur Ergebnisse der manuell-kinetischen Perimetrie entsprechend der Marke Goldmann III/4 verwertet werden.

Die Feststellung von Blindheit setzt einen Befund voraus, der aufgrund einer speziellen augenärztlichen Untersuchung unter Begutachtungsgrundsätzen erhoben worden ist."

insbesondere Ein Nachweis, dass aufgrund einer visuellen Agnosie eine Erkennungsstörung vorliegt, wird nur bei ausreichendem Bewusstsein möglich sein. Wegen des im Verwaltungsverfahren herrschenden Untersuchungsgrundsatzes (§ 20 SGB X) und des Grundsatzes der objektiven Beweislast, wonach die Nichterweislichkeit von Anspruchsvoraussetzungen zu Lasten des den Anspruch Begehrenden geht, muss die medizinische Begutachtung mit besonderer Sorgfalt und höchstem Verantwortungsbewusstsein durchgeführt werden. Wenn es um die Beurteilung cerebraler Verarbeitungsstörungen geht, müssen neben subjektiven und objektiven ophthalmologischen Untersuchungen (visuell evozierte potentiale - VEP (z. B. in der Form eines Schachbrett-VEP oder bildgebende Verfahren - Computertomographie oder Magnet-Resonanz-Tomographie) neurologisch-psychiatrische Untersuchungen herangezogen werden können.

2.3 Sehbehinderung

Nicht nur eine Blindheit, sondern auch eine Sehbehinderung ist rechtlich zu beachten. Unterschieden wird zwischen "wesentlicher Sehbehinderung" und "hochgradiger Sehbehinderung".

2.4 Blindengeld Kürzung in Einrichtungen

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 7. Senat Urteil vom 6. April 2000, Az: 7 S 1967/98

Nr: MWRE105130000

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 7. Senat Urteil vom 6. April 2000, Az: 7 S 1967/98

BliHiG BW § 1 Abs 1 S 2, BliHiG BW § 2 Abs 2

Kürzung des Landesblindengeldes wegen intensiver Betreuung im Rahmen einer berufsfördernden Maßnahme

Leitsatz

1. Sofern einem Blinden in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung eine die Mehraufwendungen oder Benachteiligungen Blinder mindernde Betreuung in nicht unerheblichem Umfang gewährt wird, kann eine Kürzung der Blindenhilfe nach § 2 Abs 2 LBHG (BliHiG BW) gerechtfertigt sein, auch wenn die Betreuung nicht alle Lebensbereiche des Blinden voll erfasst.

2. Eine intensive, blindheitsbedingte Mehraufwendungen und Benachteiligungen im Arbeitsleben mindernde Betreuung im Rahmen einer berufsfördernden Bildungsmaßnahme in einem Berufsförderungswerk - Zentrum für berufliche Bildung Blinder und Sehbehinderter - rechtfertigt dessen Eingruppierung in die in § 2 Abs 2 S 1 (und entsprechend in § 1 Abs 1 S 2) LBHG (BliHiG BW) bezeichneten Einrichtungen.

Fundstellen

DVBl 2000, 1228 (Leitsatz)

Verfahrensgang

vorgehend VG Karlsruhe 6. Mai 1998 5 K 2390/97

Tatbestand

Der Kläger begehrt vom Beklagten Landesblindenhilfe in ungekürzter Höhe.

Der 1970 geborene Kläger ist blind im Sinne des Landesblindengesetzes. Er hat seinen Wohnsitz im Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Von September 1995 bis März 1997 führte er eine berufsfördernde Bildungsmassnahme (Umschulung zum Büropraktiker) im Berufsförderungswerk Düren - Zentrum für berufliche Bildung Blinder und Sehbehinderter - in der Kostenträgerschaft des Arbeitsamtes durch.

Mit Bescheid vom 2.2.1996 gewährte der Beklagte dem Kläger auf seinen Antrag ab 1.10.1995 Blindenhilfe in Höhe von 518,-- DM (50 % der Landesblindenhilfe nach § 2 Abs. 1 in der damals geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Blindenhilfegesetzes vom 18.12.1995 - GBl. S. 873 -).

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, dass er sich zur Ausbildung im Berufsförderungswerk Düren zeitlich begrenzt aufhalte und deshalb seinen ersten Wohnsitz nach wie vor in M. habe. Im Berufsförderungswerk sei er lediglich wohnheimmäßig untergebracht. Hilfen pflegerischer oder anderer Art würden nicht angeboten. Insbesondere könne von einer umfassenden "Rund-um-die-Uhr-Betreuung" nicht gesprochen werden.

Mit Bescheid vom 10.6.1997 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit der Begründung zurück, bei dem Berufsförderungswerk handele es sich um eine Einrichtung im Sinne des § 2 Abs. 2 Landesblindenhilfegesetz - LBHG -. Für eine dahingehende Bewertung komme es nicht darauf an, ob der Schwerpunkt der Einrichtung auf dem Bereich der Pflege liege.

Am 11.7.1997 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen: Typisches Merkmal für den Begriff der Anstalt, des Heimes oder einer gleichartigen Einrichtung sei die dauerhafte, ständige Unterbringung und die damit verbundene Betreuung. Sein Wohnen im Berufsförderungswerk Düren habe aber lediglich den Zweck, ihm für die Dauer der Ausbildung eine Unterkunft bereit zu stellen.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide vom 2.2.1996 und
10.6.1997 zu verpflichten, ihm weitere Landesblindenhilfe in Höhe von
insgesamt 8.770,20 DM zu gewähren.

Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Durch Urteil vom 6.5.1998 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kläger habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt während der Zeit des Besuchs des Berufsförderungswerkes in Düren gehabt und habe Landesblindenhilfe nur gekürzt erhalten können, weil er sich in einer Einrichtung im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die Landesblindenhilfe - LBHG - befunden habe und die Kosten des Aufenthalts aus öffentlichen Mitteln (vom Arbeitsamt) getragen worden seien. Sein räumlicher Mittelpunkt - Lebensbeziehungen - habe sich während der Teilnahme an der Rehabilitationsmassnahme im Berufsförderungswerk Düren befunden. Sein Aufenthalt dort sei für ihn das Alltägliche, Gewöhnliche gewesen und nicht sein Wochenend- und Ferienaufenthalt an seinem ersten Wohnsitz. Bei dem Berufsförderungswerk Düren handele es sich um eine Einrichtung i.S.v. § 1 Abs. 1 Satz 2 und § 2 Abs. 2 LBHG. Der Begriff sei nicht anders auszulegen, als der Einrichtungsbegriff in § 97 Abs. 4 BSHG. Er sei funktional zu verstehen und sei jede auf Dauer angelegte Kombination sachlicher und persönlicher Mittel unter Präsenz von Fachpersonal in der Verantwortung eines Trägers, die auf einen wechselnden Personenkreis angelegt sei. Die Zielsetzung der Einrichtung müsse daneben wohl mindestens auch eine Betreuung der "untergebrachten" Personen sein, die einer Betreuung bedürften. Für die Annahme dieser "Heimbetreuungsbedürftigkeit" sei entscheidend, ob der Hilfebegehrende der besonderen Fürsorge durch andere bedarf und deshalb die Aufnahme in eine Anstalt, ein Heim oder eine gleichartige Einrichtung nützlich und zweckmäßig sei. Auf das Vorliegen einer Pflegebedürftigkeit komme es dabei nicht an. Beim Kläger habe ein besonderer Bedarf an Betreuung bestanden, die über eine schlichte Zurverfügungstellung von Wohnraum und Gewährung von Ausbildung hinausgegangen sei. Der Beklagte verweise insoweit zu Recht auf die Selbstdarstellung des Berufsförderungswerks in dem in der Akte enthaltenen Hausprospekt. Auch der relativ hohe Preis der Unterbringung im Berufsförderungswerk rechtfertige sich wohl nur durch Zurverfügungstellung besonderer blindengerechter Einrichtung und Versorgung.

Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger geltend, er sei während seines Aufenthalts im Berufsförderungswerk in Düren abgesehen von den berufsfördernden Maßnahmen nicht betreuungsbedürftig gewesen und sei auch nicht betreut worden. Er sei sehr wohl in der Lage, für sich selbst zu sorgen und bedürfe insbesondere keiner Pflege oder sonstiger Hilfestellungen im täglichen Leben und bei den Verrichtungen des täglichen Lebens. Das Berufsförderungswerk sei auch gar nicht auf eine Betreuung eingerichtet. Bei dem Berufsförderungswerk Düren handele es sich auch nicht um eine gleichartige Einrichtung im Sinne des Landesblindenhilfegesetzes, weil dort Betreuung in nicht nur unerheblichem Umfang gar nicht geleistet werde. Die internatsmäßige Unterbringung diene einzig und allein dem Zweck, auch weiter entfernt wohnenden Schülern die Möglichkeit der Teilnahme und der damit notwendigen Unterkunft und Verpflegung zu bieten, während die im Umkreis der Schule wohnenden Schüler die Schule von ihrer Wohnung aus täglich aufsuchten. Von den unmittelbaren Schulmassnahmen abgesehen erfolge keinerlei besondere Betreuung durch Fachkräfte. Hinzu kämen die Wochenend- und Ferienschliessungen, so dass auch insoweit gravierende Unterschiede zu einer Anstalts- oder Heimunterbringung bestünden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe zu ändern und gemäß dem
Klagantrag zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Zur Begründung wird ausgeführt, streitig sei allein, ob sich der Kläger während seines Aufenthalts im Berufsförderungswerk Düren in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung i.S.d. § 2 Abs. 2 LBHG befunden habe, ob es sich also beim Berufsförderungswerk Düren um eine derartige Einrichtung handele. Der Einrichtungsbegriff sei funktional zu verstehen, wobei davon auszugehen sei, dass die Begriffe Anstalt, Heim oder gleichartige Einrichtung eine vergleichbare funktionale Bedeutung hätten, wie sie das Bundessozialhilfegesetz in §§ 67 Abs. 2 und 4, 100 Abs. 1 und 103 Abs. 2 gebrauche. Das Berufsförderungswerk Düren diene der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die den Blinden in die Lage versetzten, trotz seiner Blindheit am Arbeitsleben teilzunehmen, gleiche also insoweit die Behinderung aus und behebe folglich die durch die Blindheit bestehende Notlage. Der Besuch des Berufsbildungswerkes Düren sei auch wegen der Besonderheit des Einzelfalles erforderlich, denn der Kläger sei wegen seiner Blindheit nicht in der Lage, an irgendeiner beruflichen Ausbildung teilzunehmen, sondern bedürfe blindenspezifischer Hilfen. Diese Hilfen könnten wirtschaftlich sinnvoll nur zentral angeboten werden mit der Folge, dass Blinde, die nicht in unmittelbarer Nähe der Einrichtung lebten, voll stationär untergebracht werden müssten.

Dem Senat liegen die Akten des Beklagten und des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Akten und die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Mit Einverständnis der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (vgl. §§ 125 Abs. 1, 101 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte ungekürzte Landesblindenhilfe.

Dass dem Kläger Landesblindenhilfe zusteht, stellt der Beklagte nicht in Frage. Für dessen Passivlegitimation ist unerheblich, ob der Kläger während seines Aufenthalts im Berufsförderungswerk Düren noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Baden-Württemberg beibehalten oder ihn in Düren gehabt hatte, denn gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 LBHG erhalten Landesblindengeld auch Blinde, die sich in Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen im übrigen Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten, wenn sie zur Zeit der Aufnahme in die Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Land Baden-Württemberg hatten und nicht nach der Regelung im Aufenthaltsland Blindengeld erhalten. Während der Teilnahme an der Rehabilitationsmassnahme hielt sich der Kläger in einer solchen Einrichtung auf, wie noch auszuführen sein wird, so dass es nicht darauf ankommt, ob mit der Aufnahme in diese Einrichtung auch eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts verbunden war.

Gemäß § 2 Abs. 2 LBHG beträgt die Landesblindenhilfe (nur) 50 vom Hundert, wenn sich der Blinde in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung befindet und die Kosten des Aufenthalts ganz oder überwiegend aus Mitteln öffentlich-rechtlicher Leistungsträger getragen werden (Nr. 2). Diese Voraussetzungen liegen ebenfalls vor. Während der Teilnahme an der berufsfördernden Bildungsmassnahme im Berufsförderungswerk Düren, deren Kosten von der Arbeitsverwaltung getragen wurden, befand sich der Kläger in einer solchen Einrichtung. Der Einrichtungsbegriff von § 2 Abs. 2 LBHG unterscheidet sich dabei nicht von demjenigen in § 1 Abs. 1 Satz 2 LBHG. Eine nähere Bestimmung der Begriffe der Anstalt, des Heims oder der gleichartigen Einrichtungen enthält das Blindenhilfegesetz nicht. Die Bedeutung dieser Begriffe lässt sich jedoch aus dem Zweck des § 2 Abs. 2 Satz 1 LBHG im Rahmen des mit diesem Gesetz verfolgten gesetzgeberischen Zieles erschliessen, ohne dass es eines Rückgriffs auf entsprechende Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (vgl. u.a. § 97 Abs. 4 BSHG) bedarf (so schon VGH Bad.-Württ., Urteil des 6. Senats vom 5.3.1975, FEVS 23, 431; OVG Münster, Urt. v. 30.7.1992 - 8 A 1001/90 - zu § 1 Abs. 2 Satz 2 Blindenhilfegesetz des Landes Nordrhein-Westfalen; vgl. ferner BVerwG, Urt. v. 5.7.1967, FEVS 15, 210 zu § 67 Abs. 3 BSHG). Die Gewährung von Landesblindenhilfe hat den Sinn, dem Blinden einen Ausgleich für die durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen und Benachteiligungen zu bieten (§ 1 Abs. 1 LBHG). Von diesen blindheitsbedingten Mehraufwendungen und Benachteiligungen kann derjenige Blinde entlastet sein, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung befindet, sofern dort eine die Mehraufwendungen oder Benachteiligungen mindernde Betreuung in nicht unerheblichem Umfang gewährt wird, so dass in diesem Fall nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine Kürzung der Blindenhilfe gerechtfertigt sein kann. Entscheidend ist, ob die Betreuung zu einer erheblichen Entlastung des Blinden von blindheitsbedingten Mehraufwendungen oder Benachteiligungen führt. Nicht erforderlich ist, dass die Betreuung alle Lebensbereiche des Blinden voll erfasst. Das Landesblindengeld dient allerdings nicht der Pflege im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes, wie sich auch aus der Regelung in § 67 Abs. 5 BSHG ergibt, wonach neben der Blindenhilfe (i.S.d. Bundessozialhilfegesetzes) auch Hilfe zur Pflege (in Anstalten, Heimen und gleichartigen Einrichtungen) gewährt werden kann. Andererseits kann in der blossen Gewährung von Unterkunft und Verpflegung eine die blindheitsbedingten Mehraufwendungen oder Benachteiligungen mindernde Betreuung nicht schon erblickt werden (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 5.3.1975, aaO).

Für die Anwendung der Kürzungsvorschrift kommt es deshalb darauf an, ob der Blinde im Rahmen der Unterbringung in einer solchen Einrichtung infolge der dort gewährten Leistungen von blindheitsbedingten Mehraufwendungen nicht unerheblich entlastet wird. Welcher Mehraufwand einem Blinden - bedingt durch sein Leiden - im Einzelnen entstehen kann, lässt sich zwar nicht ohne weiteres abschliessend umschreiben. Jedoch wird es sich im Allgemeinen um solche Aufwendungen handeln, die einem Blinden etwa durch Teilnahme am kulturellen Leben und durch Kontaktpflege, aber auch durch Teilnahme am Arbeitsleben möglicherweise in grösserem Umfang entstehen. Die in der Einrichtung gewährten Betreuungsleistungen müssen sich demnach auf einen oder mehrere dieser Lebensbereiche beziehen. Dies ist beim Berufsförderungswerk Düren der Fall.

Sinn und Zweck des Aufenthalts des Klägers im Berufsförderungswerk war seine Umschulung und Ausbildung zum Büropraktiker. Deshalb erhielt der Kläger dort nicht nur Unterkunft und Verpflegung, sondern darüber hinaus und schwerpunktmäßig eine Berufsausbildung. Im Rahmen dieser Berufsausbildung ist der Kläger als Blinder besonders betreut worden, was bei ihm zu entsprechender Einsparung eigener Aufwendungen für seine Berufsausbildung geführt hat. Die intensive, blindheitsbedingte Benachteiligungen mindernde Betreuung im Ausbildungsbereich rechtfertigt hiernach die Eingruppierung des Berufsförderungswerks Düren in die in § 2 Abs. 2 Satz 1 (und entsprechend in § 1 Abs. 1 Satz 2) LBHG bezeichneten Einrichtungen. Ohne Erfolg beruft sich deshalb der Kläger darauf, dass er abgesehen von den berufsfördernden Maßnahmen nicht betreuungsbedürftig gewesen sei und auch nicht betreut worden sei, er insoweit dort nur internatsmäßig untergebracht worden sei. Die Eingruppierung des Berufsförderungswerks in die in § 2 Abs. 2 Satz 1 LBHG bezeichneten Einrichtungen setzt nämlich nicht, wie vorstehend ausgeführt, eine umfassende, alle Lebensbereiche abdeckende Betreuung voraus (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 5.3.1975, aaO). Im Übrigen lässt sich dem in den Akten des Beklagten befindlichen Hausprospekt des Berufsförderungswerks Düren entnehmen, dass neben der Aufgabe, Blinde und wesentlich Sehbehinderte, die zur beruflichen Bildung behinderungsspezifischer Maßnahmen bedürfen, mit dem Ziel der dauerhaften Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft auszubilden bzw. umzuschulen, zusätzliche Leistungen angeboten werden, nämlich Berufsfindung und Arbeitserprobung einschliesslich augenärztlicher Untersuchung und Beratung, Beratungs- und Informationsgespräche, Beratung bei Fragen der Arbeitsplatzausstattung und Vorführung von technischen Hilfsmitteln für Blinde und Sehbehinderte, psychologische und augenärztliche Betreuung, sozialrechtliche Beratung und Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche. Außerdem gibt es ein vielfältiges Angebot an Freizeitmöglichkeiten wie Kegeln, Basteln, Schwimmen, Töpfern, Brett- und Kartenspiele; ferner finden Wanderungen und Exkursionen mit Teilnahme an kulturellen und sportlichen Veranstaltungen statt. Auch ausserhalb der Unterrichtszeiten findet also eine umfangreiche, entlastende Betreuung statt. Angesichts all dieser Betreuungsleistungen ist es deshalb unerheblich, ob und inwieweit der Kläger bei den Verrichtungen des täglichen Lebens auf sich selbst gestellt bzw. insoweit nicht betreuungsbedürftig war.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

2.5 Blindengeld und Prozesskostenhilfe

Thüringer Oberlandesgericht Senat für Familiensachen. Beschluß vom 19. Januar 1999, Az:
WF 108/98

Nr: KORE408829900

Thüringer Oberlandesgericht Senat für Familiensachen Beschluß vom 19. Januar 1999, Az: WF 108/98

ZPO § 114, ZPO § 115 Abs 1 S 2, ZPO § 115 Abs 1 S 3 Nr 1, BSHG § 67, BSHG § 76

Prozeßkostenhilfe: Berücksichtigung von Blindengeld als Einkommen

Orientierungssatz
Von einer bedürftigen Partei nach dem Thüringer Gesetz über das Blindengeld bezogenes Blindengeld ist nicht in die Berechnung von Prozeßkostenhilferaten einzubeziehen.

Fundstellen
Verfahrensgang

vorgehend AG Weimar 15. Mai 1998 3 F 140/98

Tenor

1. Der angefochtene Beschluß wird dahingehend abgeändert, daß die Ratenzahlungsanordnung entfällt.

2. Eine Kostenentscheidung und die Festsetzung des Beschwerdewertes sind im Verfahren über die Prozeßkostenhilfe nicht veranlaßt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers, die sich darauf stützt, daß das an ihn gezahlte Blindengeld nicht in die Berechnung der Prozeßkostenhilferaten einzubeziehen sei, ist gemäß § 127 Abs. 2 ZPO zulässig und führt in der Sache zum Erfolg.

Zwar stellt das Blindengeld nach dem Thüringer Gesetz über das Blindengeld (ThürBliGG), das insoweit die Blindenhilfe nach § 67 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verdrängt, eine Sozialhilfeleistung dar, jedoch ergibt sich allein daraus nicht zwangsläufig, es bei der Feststellung des auf die Prozeßkosten einzusetzenden Einkommens (§ 115 Abs. 1 ZPO) außer Betracht zu lassen.

Der Gesetzgeber geht trotz bereits geführten Meinungsstreits in Rechtsprechung und Literatur - auch nach dem Prozeßkostenhilfeänderungsgesetz vom 10.10.1994 von unterschiedlichen Einkommensbegriffen im Prozeßkostenhilferecht (§ 115 Abs. 1 Satz 2 ZPO) und im Sozialhilferecht (§ 76 Abs. 1 BSHG) aus.

Entgegen dem sozialhilferechtlichen Einkommensbegriff sind bei der Berechnung des für die Prozeßkostenhilfe relevanten Einkommens gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 ZPO zunächst nur Abzüge im Rahmen des § 76 Abs. 2, 2 a BSHG vorzunehmen. Ein Verweis auf § 76 Abs. 1 BSHG und die Anwendung dieser Bestimmung findet sich in den §§ 114 ff ZPO nicht.

Damit kann das Blindengeld nicht von vornherein unberücksichtigt gelassen werden, wie der Antragsteller meint. Es stellt vielmehr Einkommen dar, von dem die weiteren in § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 bis 4 ZPO genannten Abzüge vorzunehmen sind.

Gleichwohl kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben.

Abgesehen davon, daß das Familiengericht bei der Berechnung der Ratenhöhe von den im Schriftsatz des Antragstellers vom 08.05.1998 genannten Belastungen ausgegangen ist, ohne daß entsprechende Belege (§ 117 Abs. 2 ZPO) vorlagen, hat es die Bestimmung des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, 2. Halbsatz ZPO nicht beachtet, wonach für weitere Belastungen § 1610 a BGB entsprechend gilt.

Blindenhilfe stellt nach § 1 Abs. 1 ThürBliGG - auch wenn sie ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen gezahlt wird - einen Ausgleich der durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen dar, so daß sie letztlich doch vom Einkommen abzuziehen ist, weil gemäß § 1610 a BGB zu vermuten ist, daß die Kosten der Aufwendungen nicht geringer sind als die Höhe dieser Sozialleistung.

Zumindest zuungunsten der Partei, die Prozeßkostenhilfe begehrt, kann daher im Rahmen der Entscheidung über die Ratenhöhe - entsprechend dem Willen des Gesetzgebers - eine Feststellung der Höhe tatsächlicher Mehraufwendungen nicht erfolgen.

Insoweit hat auch der Beschluß des OLG Saarbrücken vom 06.06.1988 - 6 WF 45/88 - (FamRZ 1988, 1183), in dem der Gedanke des § 76 Abs. 1 BSHG herangezogen und eine Schätzung des Mehrbedarfs eines Blinden vorgenommen wurde, nach dem Prozeßkostenhilfeänderungsgesetz keine ausschlaggebende Bedeutung mehr.

Letztlich war dem Antragsteller ratenfreie Prozeßkostenhilfe zu bewilligen, da ihm nach Abzug des Freibetrages (§ 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 ZPO), des Blindengeldes und der weiteren nachgewiesenen Belastungen kein Einkommen verbleibt, das er nach § 115 Abs. 1 Satz 4 ZPO auf die Prozeßkosten einzusetzen hätte.

2.6 Blindenhilfe für einen Strafgefangenen

BVerwG 5. Senat Urteil vom 4. November 1976, Az: V C 7.76

Nr: BWRE003140000

BVerwG 5. Senat Urteil vom 4. November 1976, Az: V C 7.76

BSHG § 2, BSHG § 67 Fassung: 1969-10-01, BSHG § 67 Fassung: 1974-04-01, BSHG § 85

Blindenhilfe für Strafgefangenen

Leitsatz

1. Verbüßung einer Freiheitsstrafe ist für sich allein kein der Leistung von Sozialhilfe entgegenstehender Grund.

2. Es ist nicht auszuschließen, daß ein Blinder auch während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe blindheitsbedingte Mehraufwendungen haben kann, so daß die bestimmungsgemäße Verwendung der Blindenhilfe durch oder für ihn möglich ist.

3. Die Blindenhilfe kann nicht allein mit der Begründung völlig versagt werden, daß für den Lebensunterhalt des Blinden während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe umfassend gesorgt sei.

Fundstellen

BayVBl 1977, 476-476 (Leitsatz)

Diese Entscheidung wird zitiert von

VG Karlsruhe 10. Oktober 2003 5 K 2580/03 Anschluss

VG Karlsruhe 10. Oktober 2003 5 K 2580/03 Anschluss

Verfahrensgang

vorgehend VG Kassel 3. Dezember 1974 VG III E 86/74
vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof 4. Dezember 1975 VGH VII OE 13/75

Gründe

I.

Bei dem Kläger besteht seit längerem ein Zustand nach mehrfacher Glaukom-Operation beider Augen. Die Sehschärfe auf dem besseren Auge ist so herabgesetzt, daß er einem Blinden gleichgeachtet wird. Der Beklagte gewährte ihm daher Blindenhilfe. Er stellte die Zahlung ein, nachdem der Kläger in Haft genommen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Einen Antrag des Klägers, die Zahlung der Blindenhilfe wieder aufzunehmen, lehnte er ab, weil es der Justizvollzugsbehörde obliege, den notwendigen Lebensbedarf einschließlich des durch die Blindheit bedingten Bedarfs sicherzustellen; auch sei während der Verbüßung einer Freiheitsstrafe die bestimmungsgemäße Verwendung der Blindenhilfe durch den Kläger oder für ihn nicht möglich.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen hat der Verwaltungsgerichtshof den Beklagten verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1973 bis zum 31. Dezember 1975 Blindenhilfe zu gewähren, und zwar für die Zeit bis zum 31. März 1974 in Höhe von 140 DM monatlich und für die Zeit danach in Höhe der Hälfte des für den jeweiligen Leistungsabschnitt maßgebenden Mindestbetrags der Pflegezulage für Blinde nach dem Bundesversorgungsgesetz. Im übrigen hat er die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die stattgebende Entscheidung hat er im wesentlichen wie folgt begründet: Auch als Strafgefangener habe der Kläger Anspruch auf Ausgleich seiner blindheitsbedingten Mehraufwendungen. Zwar müsse die Justizvollzugsbehörde auf Grund ihrer allgemeinen Betreuungspflicht dem blinden Strafgefangenen den notwendigen Lebensunterhalt gewähren. Dazu gehöre der blindheitsbedingte Mehraufwand aber nicht. Er liege außerhalb des notwendigen Lebensunterhalts. Er sei im Rahmen der "Hilfe in besonderer Lebenslage" auszugleichen. Der Kläger habe auch blindheitsbedingte Mehraufwendungen. Da es für ihn wegen seiner Blindheit, also nicht aus Gründen des Vollzugs der Freiheitsstrafe, keinen Film, kein Fernsehen, kein Zeitungs- und Bücher*-lesen, kein Schreiben und kein Sporttreiben gebe, müsse ein Ausgleich geschaffen werden. Doch sei es geboten, die Blindenhilfe zu kürzen; denn als Folge des Strafvollzugs sei der Kläger in seiner Bewegungs- und Entfaltungs*-freiheit eingeschränkt, so daß ihm zahlreiche Mehraufwendungen erspart blieben. Für die Kürzung könne § 67 Abs 3 BSHG entsprechend angewendet werden, weil der eine Freiheitsstrafe verbüßende Blinde dem in einer Anstalt, einem Heim oder in einer gleichartigen Einrichtung untergebrachten Blinden näherstehe als einem Blinden in Freiheit.

Die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Revision hat allein der Beklagte eingelegt. Mit ihr erstrebt er, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts in vollem Umfang zurückgewiesen wird, hilfsweise die Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Unter Hervorhebung des Zwecks der Blindenhilfe hält er ihre bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für einen Blinden, der durch eigenes Tun aus der Gemeinschaft heraus in eine gewisse Isolation - die der Strafhaft - versetzt worden sei, nicht für möglich. Auch wegen des Nachrangs der Sozialhilfe kann nach Ansicht des Beklagten dem Kläger die Blindenhilfe nicht gewährt werden, weil während der Verbüßung der Strafhaft der Lebensunterhalt des Blinden vollständig sichergestellt sei. Sollte gleichwohl ein blindheitsbedingter Bedarf bestehen, so kann es sich nach Meinung des Beklagten nur um einen geringfügigen Bedarf handeln, den zu decken dem Kläger aus dem eigenen Renteneinkommen zuzumuten sei, zumal da er als Folge der Verbüßung der Freiheitsstrafe häusliche Ersparnisse habe.

Der Kläger tritt der Revision aus den Gründen des Berufungsurteils entgegen.

Der am Verfahren beteiligte Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht hält die Revision für unbegründet.

II.

Die Revision des Beklagten ist zurückzuweisen; denn sie ist unbegründet (§ 144 Abs 2 VwGO). Das Berufungsurteil beruht in dem Umfang, in dem es auf Grund des allein vom Beklagten eingelegten Rechtsmittels vom Revisionsgericht zu prüfen ist, nicht auf der Verletzung von Bundesrecht.

Der Kläger gehört nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, an die das Revisionsgericht gebunden ist, zu den Personen, die Blinden gleichgeachtet werden. Sein Anspruch auf Blindenhilfe ist daher nach § 67 Abs 1 bis 5 BSHG in den ab 1. Oktober 1969 geltenden Fassungen zu beurteilen (§ 67 Abs 6 BSHG).

Verbüßung einer Freiheitsstrafe ist für sich allein kein der Leistung von Sozialhilfe entgegenstehender Grund (vgl BVerwGE 37, 87; ferner BVerwGE 32, 271). Die Frage, ob einem Gefangenen eine der mannigfachen Sozialhilfeleistungen nicht zu gewähren ist oder nicht gewährt werden kann, ist vielmehr im Einzelfall zu entscheiden: Zum einen danach, ob der Zweck des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder die Eigenart des Vollzugs die Hilfeleistung ausschließt; zum anderen danach, ob der mit der Hilfeleistung verfolgte Zweck während des Vollzugs der Freiheitsstrafe erreicht werden kann; schließlich - unter dem Aspekt des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) - danach, ob der Bedarf, dessentwegen die Hilfe begehrt wird, bereits anderweitig gedeckt ist, etwa gerade im Rahmen des Vollzugs der Freiheitsstrafe (vgl dazu Bundesverwaltungsgericht, Beschluß vom 15. Oktober 1976 - BVerwG V B 76.76 - betreffend Krankenhilfe; Beschluß vom 15. Oktober 1976 - BVerwG V B 77.76 - betreffend Ernährung; vgl auch das am 1. Januar 1977 in Kraft tretende Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung - Strafvollzugsgesetz (StVolzG) - vom 16. März 1976 (BGBl I S 581)).

Dafür, daß der Zweck des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder die Eigenart des Vollzugs - bezogen auf den Kläger - die Versagung der Hilfe rechtfertigt oder gar gebietet, ist weder etwas ersichtlich noch vom Beklagten etwas geltend gemacht.

Auch unter dem Aspekt der Zweckbestimmung der Blindenhilfe kann sie dem Kläger nicht von vornherein im ganzen versagt werden. Die Blindenhilfe dient dazu, die durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen auszugleichen (§ 67 Abs 1 BSHG). Diese im Gesetz unzweideutig zum Ausdruck gekommene Zweckbestimmung würde verändert werden, folgte man den Überlegungen des Beklagten, daß ein Blinder, der als Folge seines (schuldhaften) Verhaltens aus der Gemeinschaft heraus in eine gewisse Isolation - die der Strafhaft - versetzt worden ist, der sich also für die Dauer der Strafhaft nicht in die Gemeinschaft eingliedern kann, der Wohltat des Bezugs von Blindenhilfe verlustig gehen soll. Zu Unrecht leitet der Beklagte derartige, ausschließlich an einer "Eingliederungs-Natur" der Blindenhilfe ausgerichtete Überlegungen aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Mai 1969 (BVerwGE 32, 89 (92)) her. Die Ausführungen dort zur Absicht des Gesetzgebers, dem Blinden die Möglichkeit zu eröffnen, sich trotz Blindheit mit seiner Umgebung vertraut zu machen und mit eigenen Mitteln Kontakt zur Umwelt zu pflegen und am kulturellen Leben teilzunehmen, betreffen unmittelbar die in bezug auf die Blindenhilfe verhältnismäßig hoch angesetzte Einkommensgrenze (§ 81 Abs 2 BSHG). Versteht man die Ausführungen auch als Überlegungen zum Zweck der Blindenhilfe, so sind mit ihnen erkennbar nur Beispiele für eine in Betracht zu ziehende Verwendung der Blindenhilfe angesprochen. Aufwendungen, die einem Blinden durch Kontaktpflege und Teilnahme am kulturellen Leben möglicherweise in größerem Umfange entstehen, werden stets nur einen Teil dessen ausmachen, was ein Blinder - bedingt durch sein Leiden - im Verhältnis zu einem Sehenden vermehrt aufwenden muß.

Welcher Mehraufwand einem Blinden - bedingt durch sein Leiden - im einzelnen entstehen kann, läßt sich nicht verbindlich und abschließend umschreiben. Er läßt sich rechnerisch nicht festlegen (BVerwGE 27, 270 (273)). Daher wird die Blindenhilfe ohne Rücksicht auf einen im Einzelfall nachzuweisenden oder nachweisbaren Bedarf gezahlt (BVerwGE 32, 89 (91)). Die Gewährung der Blindenhilfe ist nicht davon abhängig, daß sie bestimmungsgemäß verwendet wird, sondern daß ihre bestimmungsgemäße Verwendung durch oder für den Blinden möglich ist (vgl § 67 Abs 4 Satz 2 BSHG). All dem entspricht, daß ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles ein fester, nicht ein an den Umständen des Einzelfalles ausgerichteter angemessener Betrag gewährt wird. Den sich hiernach aufdrängenden Überlegungen, ob es sich bei der Blindenhilfe materiell noch um Sozialhilfe, also um eine Hilfe zur Überwindung einer Notlage handelt, oder ob sie ihrer Ausgestaltung nach, die sie von Novellierung zu Novellierung des § 67 BSHG zunehmend erhalten hat, faktisch inzwischen Versorgungscharakter hat (dazu Schellhorn/Jirasek/Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, 8. Aufl, § 67 Rdnr 31; vgl auch "Vorschläge zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe", ausgearbeitet und herausgegeben vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, 1976, S 49f), braucht hier nicht nachgegangen zu werden, da der Rechtsstreit in Anwendung des bestehenden Sozialhilferechts zu entscheiden ist.

Daß auch ein Gefangener, der blind ist, während des Vollzugs der Freiheitsstrafe - bedingt durch sein Leiden - Mehraufwendungen haben kann, ist nicht auszuschließen; ebensowenig, daß die bestimmungsgemäße Verwendung der Blindenhilfe durch oder für den Kläger möglich ist. Worin diese Mehraufwendungen im einzelnen bestehen können, läßt sich in bezug auf einen Gefangenen so wenig verbindlich und abschließend umschreiben wie in bezug auf einen in Freiheit lebenden Blinden. Es ist daher nicht entscheidungserheblich, daß der Beklagte in bezug auf einzelne vom Berufungsgericht genannte Mehraufwendungen auf andere Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes, insbesondere auf die §§ 39ff BSHG und die Eingliederungshilfe-Verordnung, hinweisen kann, daß also eine Reihe von Mehraufwendungen nicht zu denjenigen gehört, die mit der Blindenhilfe auszugleichen sind.

Eine andere Frage ist, ob einem Gefangenen mit Rücksicht darauf, daß er in seiner Bewegungs- und Entfaltungs*-freiheit eingeschränkt ist, zahlreiche Mehraufwendungen erspart bleiben können, die sich jedoch nach dem zuvor Gesagten in gleicher Weise einer abschließenden Umschreibung entziehen, und ob es aus diesem Grund unter dem Blickwinkel der eingeschränkten Möglichkeit bestimmungsgemäßer Verwendung der Blindenhilfe gerechtfertigt erscheinen kann, sie zu kürzen. Dieser Frage braucht nicht nachgegangen zu werden, da der Verwaltungsgerichtshof den Beklagten in Anlehnung an § 67 Abs 3 BSHG ohnehin nur zur Gewährung gekürzter Blindenhilfe verpflichtet hat und weder nach dieser Vorschrift noch nach der etwa anwendbaren Ermessensvorschrift des § 67 Abs 4 Satz 2 BSHG der Kürzungsbetrag rechtsfehlerhaft zu niedrig bemessen ist.

Die Blindenhilfe in Gestalt eines pauschalierten Geldbetrages wäre nach § 67 Abs 1 BSHG nicht zu gewähren, wenn der Kläger eine gleichartige Leistung nach anderen Rechtsvorschriften erhielte. Das ist nicht der Fall. Insbesondere hat das Land Hessen - anders als alle anderen Länder der Bundesrepublik - bisher kein Landesblindengeldgesetz erlassen, auf Grund dessen die Gewährung von Blindengeld möglich wäre.

Von der Blindenhilfe - jedenfalls in der Höhe, in der sie nach der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs zu gewähren ist - ist der Kläger auch sonst nicht aus Gründen des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) ausgeschlossen. Hierfür braucht nicht entschieden zu werden, ob sich mit Rücksicht auf den in § 67 Abs 1 BSHG normierten Ausschlußgrund des Bezugs einer gleichartigen Leistung der Nachranggrundsatz im sonst üblichen Sinn handhaben läßt. Wie bereits in anderem Zusammenhang dargelegt, wird vorbehaltlich der schon erwähnten Kürzungsmöglichkeit nach § 67 Abs 4 Satz 2 BSHG Blindenhilfe als pauschalierte Leistung ohne Rücksicht auf im Einzelfall festgestellte oder feststellbare, nachgewiesene oder nachweisbare Mehraufwendungen gewährt. Schon deshalb erscheint es auch in bezug auf einen Gefangenen rechtlich fragwürdig, einen Bedarf und die zur Deckung dieses Bedarfs erforderlichen Aufwendungen zu ermitteln und ihnen tatsächliche Leistungen gegenüberzustellen, die diesen Bedarf möglicherweise (teilweise) zu decken geeignet erscheinen. Von Gesetzes wegen ist dies jedenfalls sogar in Fällen ausgeschlossen, in denen die Unterbringung in einer Anstalt, in einem Heim oder in einer gleichartigen Einrichtung gerade der Betreuung des Blinden dient. Ein solcher Blinder behielt nach § 67 Abs 3 BSHG in der bis zum 31. März 1974 geltenden Fassung 140 DM und behält nach der geänderten Fassung des § 67 Abs 3 BSHG mindestens die Hälfte der Blindenhilfe. Bei der Unterbringung eines Blinden in einer Vollzugsanstalt zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe, deren Zweck ersichtlich nicht ist, den Blinden seines Leidens wegen zu betreuen, kann daher nicht allein aus dem Grunde des Nachrangs der Sozialhilfe Blindenhilfe mit der Begründung völlig versagt werden, daß für den Lebensunterhalt des Gefangenen umfassend gesorgt sei.

Aus den dargelegten Gründen ist es auch nicht gerechtfertigt, Blindenhilfe unter Berufung auf § 85 Nr 2 BSHG zu verweigern. Die Hilfserwägung des Beklagten, bei der er offenbar einen blindheitsbedingten, durch (Sach-)Leistungen der Vollzugsbehörde nicht gedeckten, jedoch für geringfügig gehaltenen Bedarf unterstellt, ist nur auf der Grundlage möglich, daß sich ein (Ausgangs-)Bedarf und die diesen Bedarf im wesentlichen deckenden (Sach-)Leistungen ermitteln lassen. Eine Bedarfsermittlung findet bei der Gewährung der Blindenhilfe aber gerade nicht statt.

Den Kläger darauf zu verweisen, er möge blindheitsbedingte Mehraufwendungen, soweit sie während der Strafhaft notwendig entstünden, mit den Mitteln decken, die er infolge seiner Unterbringung in der Strafanstalt hinsichtlich des häuslichen Lebensunterhalts erspare, verbietet sich gleichfalls aus Rechtsgründen. Die Blindenhilfe dient - wie der Verwaltungsgerichtshof zutreffend dargelegt hat - nicht (auch nicht teilweise) der Deckung des gewöhnlichen Lebensunterhalts. Mit ihr sollen Mehraufwendungen gedeckt werden, die ihre Ursache in der Blindheit haben (§ 67 Abs 1 BSHG). Eine bezüglich der Blindenhilfe rechtserhebliche Ersparnis kann also nur dort eintreten, wo die Unterbringung in einer Anstalt, in einem Heim oder in einer gleichartigen Einrichtung Leistungen einschließt, die auf die Betreuung gerade des Blinden zugeschnitten, also geeignet sind, die blindheitsbedingten Mehraufwendungen zu verringern oder gar aufzuheben. Dieser Fall ist jedoch sondergesetzlich geregelt, nämlich in § 67 Abs 3 BSHG, worauf der Oberbundesanwalt mit Recht hinweist. Aus diesen Gründen würde die vom Beklagten für richtig, vom Oberbundesanwalt jedoch für bedenklich gehaltene entsprechende Anwendung des § 85 Nr 3 Satz 1 BSHG nicht zu einer die Gewährung von Blindenhilfe völlig ausschließenden Anrechnung von häuslicher Ersparnis führen können; denn folgerichtig müßte auch § 67 Abs 3 BSHG entsprechend angewendet werden.

Der Rechtsfrage, ob die Blindenhilfe in entsprechender Anwendung des § 67 Abs 3 BSHG auf den in dieser Vorschrift genannten Betrag herabgesetzt werden kann oder ob § 67 Abs 4 Satz 2 BSHG eine unmittelbare Rechtsgrundlage für eine Kürzung bietet, die ausgerichtet am Pauschalcharakter der Blindenhilfe unter Umständen zu schätzen wäre, braucht mangels einer Revision des Klägers nicht nachgegangen zu werden.

Für eine Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, die der Beklagte hilfsweise beantragt, fehlt es an den Voraussetzungen. Das Berufungsurteil, soweit der Beklagte es zulässigerweise hat anfechten können, erweist sich aus den dargelegten Rechtsgründen als richtig. Weiterer Sachaufklärung bedarf es nicht.

3.1 Feststellung der Behinderung und ihre Wirkung

Das Vorliegen einer Behinderung wird nur auf Antrag des Betroffenen festgestellt (§ 69 Abs. 1 SGB IX). Zuständig sind die Versorgungsämter. Von anderen Behörden, z. B. den Sozialhilfebehörden kann aber im Wege der Mitwirkungspflicht (§§ 60 ff. SGB I) die Stellung eines solchen Antrags verlangt werden, um durch die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen Sozialhilfeleistungen zu ersparen.

Die Feststellung einer Behinderung setzt medizinische Beurteilungen voraus. Diese hängen von Ärzten, medizinischen Sachverständigen und Gutachtern ab.

Zur Beurteilung werden die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP), Stand 2004, herangezogen. (vgl. AHP Nr. 17).

Obwohl es sich bei diesen Anhaltspunkten um keine Rechtsnormen handelt und deshalb gegen ihre Gültigkeit Bedenken bestehen,, weil es an einer gesetzlichen Ermächtigung zu ihrem Erlass fehlt, werden sie als "antizipierte Gutachten" in der Rechtsprechung wie untergesetzliche Normen behandelt (s. zuletzt BSG: B 9 SB 3/02 R und B 9 SB 6/02 R vom 18.09.2003).

Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von insgesamt wenigstens 20 vorliegt (SGB 9 § 69 Abs. 1 S. 3).

Ab einem Grad der Behinderung von 50 wird auf Antrag ein Behindertenausweis ausgestellt (s. u.). Die Beantragung ist zu empfehlen (§ 69 Abs. 5 SGB IX), denn nur damit kann der andere Behörden bindende Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft geführt werden.

Die Statusentscheidung des Versorgungsamtes erspart wegen ihrer Bindungswirkung Feststellungen durch andere Behörden. Über die Eigenschaft als Schwerbehinderter Mensch hat nämlich an erster Stelle und im Zweifel das Versorgungsamt zu entscheiden. Deren Statusentscheidungen erstrecken sich nicht nur auf den Grad der Behinderung, sondern auch auf die gesundheitlichen Merkmale für Nachteilsausgleiche (§ 69 Abs. 1, 4 und 5 SGB IX). Sie sind für andere Verwaltungsbehörden bindend, sofern der nach einem anderen Gesetz zu beurteilende Tatbestand von inhaltsgleichen Voraussetzungen abhängt. Vgl. dazu die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 - 5 C 48/88 -, BVerwGE 90, 65-72 mit zahlreichen Hinweisen auf einschlägige Rechtsprechung, insbes. BVerwGE 66,315 [320]; BSGE 52,168 [174]; BSG SozR 3100 § 35 Nr. 16; u.a. BFHE 164,198 (200]). Das Versorgungsamt hatte durch Bescheid eine Blindheit mit einer GdB (seinerzeit noch MdE) von 100 und dem Merkzeichen "Bl" anerkannt. Nunmehr ging es um den Anspruch auf ein landesrechtliches Blindenpflegegeld. In diesem Verfahren konnte jedoch aus medizinischen Gründen eine Blindheit nicht festgestellt werden. Deshalb wurde der Antrag auf Blindengeld abgelehnt. Dagegen wandte sich die Klägerin mit dem Argument, dass die Feststellung des Versorgungsamtes für die Blindengeldstelle bindend sei. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihr recht. Ausschlaggebend war, dass im Schwerbehindertengesetz und in dem für den Rechtsstreit maßgebenden Blindengeldgesetz der gleiche Blindheitsbegriff galt. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das BVerwG im Anschluss an die Rechtsprechung des BSG und des BFH festgestellt, dass es nach dem Sinn und Zweck der Statusentscheidung den Schwerbehinderten erspart bleiben soll, stets wieder aufs Neue ihre Behinderung und die damit verbundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen untersuchen und beurteilen lassen zu müssen. Dieses Ziel wird durch die Konzentration der Statusentscheidungen bei den Versorgungsbehörden und durch eine umfassende Nachweisfunktion des von diesen ausgestellten Ausweises erreicht.

Hat umgekehrt eine andere Stelle, z. B. eine Berufsgenossenschaft bereits in einem Verwaltungsbescheid oder ein Sozialgericht in einem Urteil eine Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Erwerbsminderung, also die MdE, festgestellt, bedarf es grundsätzlich keiner zusätzlichen Entscheidung des Versorgungsamtes (§ 69 Abs. 2 SGB IX). Sie wird nur dann notwendig, wenn die andere Stelle nicht die gesamte Behinderung berücksichtigen konnte und der Behinderte ein Interesse an einer Feststellung durch die Versorgungsverwaltung glaub haft macht (§ 69 Abs. 2 SGB IX).

Für die Feststellung der medizinischen Voraussetzungen erkennt demgemäß Das Versorgungsamt Rentenbescheide, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen ohne weiteres an, in anderen Fällen überprüft es die vorgelegten ärztlichen Befunde anhand der "Anhaltspunkte
für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht", bzw. Veranlasst eine ärztliche Begutachtung.

Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" geben den Grad einer Behinderung (GdB) an. Der Grad der Behinderung wird von 0 bis 100 jeweils in Zehnerschritten angegeben. Also z. B. 10, 20, 30 usw.

Der Schwerbehindertenausweis wird ab einem GdB von 50 ausgestellt.

Der DGB beträgt z. B. beim vollständigen Verlust des Sehens auf einem Auge und gleichmäßiger Einschränkung des Gesichtsfeldes auf dem anderen Auge

Beim Vorliegen mehrerer Behinderungen werden die für die einzelnen Behinderungen ermittelten GdB-Werte nicht einfach addiert. Vielmehr wird ein Gesamt-GdB auf Grund der Auswirkungen in ihrer Gesamtheit festgestellt (§ 69 Abs. 3 SGB IX). Detaillierte Hinweise für die Bildung des Gesamt-GdB enthält Nr. 19 der AHP.

Für die Bildung eines solchen "Gesamt-GdB" kann von folgender Faustregel ausgegangen werden: Die schwerste Behinderung wird - entsprechend dem Tabellenwert der "Anhaltspunkte" - mit dem vollen Grad bewertet (z.B. mit einem GdB von 50), die zweitschwerste Behinderung mit 1/2 des Grades (z.B. mit 1/2 von 40 GdB = 20 GdB), die drittschwerste Behinderung mit 1/3 des Grades (z.B. 1/3 von 30 GdB = 10 GdB). Das ergibt einen Gesamt-GdB von 50 + 20 + 10 = 80. Allerdings kommt es auf die Auswirkung zusätzlicher Behinderungen auf die anderen vorhandenen Behinderungen an. So wird eine Hörbeeinträchtigung, die mit einer Sehbehinderung zusammentrifft stärker zu berücksichtigen sein, als dies nach dieser Faustregel der Fall sein würde.

3.2 Der Schwerbehindertenausweis

Den Schwerbehindertenausweis gibt es in zwei Ausgestaltungen:

  1. Der "normale" grüne Ausweis (§ 1 SchwbAwV) bescheinigt die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, ferner den Grad der Behinderung und genauere gesundheitliche Merkmale. Mit diesem Ausweis kann der Schwerbehinderte belegen, welche Rechte und Nachteilsausgleiche ihm nach dem SGB IX oder nach anderen Vorschriften zustehen (z.B. Steuererleichterungen).
  2. Den zur Freifahrt im öffentlichen Personennahverkehr berechtigenden Schwerbehindertenausweis mit orangefarbenem Flächenaufdruck (linke Seite grün, rechte Seite orange, §1 SchwbAwV).
  3. aG wenn der schwerbehinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist (Zu den gesundheitlichen Voraussetzungen vgl. AHP Nr. 31),
  4. H wenn der schwerbehinderte Mensch hilflos im Sinne des § 33b Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften ist. (Vgl. Dazu AHP Nr. 21. und Nr. 27 (3)). Nach AHP Nr. 21 (6) ist bei bestimmten Behinderungen stets von Hilflosigkeit auszugehen, ohne dass es dafür eine besondere Nachprüfung bedarf. Das gilt u. a. für Blindheit und hochgradige Sehbehinderung.
  5. BL wenn der schwerbehinderte Mensch blind im Sinne des § 72 Abs. 5 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder entsprechender Vorschriften ist (vgl. AHP Nr. 23 und oben 2. 2).
  6. GL wenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 145 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch ist (vgl. AHP Nr. 26.5).
  7. RF wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt (Zu den gesundheitlichen Voraussetzungen vgl. AHP Nr. 33).
  8. 1.Kl. wenn der schwerbehinderte Mensch die im Verkehr mit Eisenbahnen tariflich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Benutzung der 1. Wagenklasse mit Fahrausweis der 2. Wagenklasse erfüllt. Dieser Nachteilsausgleich kommt für Schwerkriegsbeschädigte und Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes mit einer MdE von mindestens 70 v.H. in Betracht, wenn die Benutzung der 2. Wagenklasse unzumutbar ist (vgl. AHP Nr. 34).
  9. auf der Vorderseite das Merkzeichen B und der Satz: "Die Notwendigkeit ständiger Begleitung ist nachgewiesen" (Zu den gesundheitlichen Voraussetzungen vgl. AHP Nr. 32).
  10. auf der Rückseite im ersten Feld das Merkzeichen G bei Erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Zu den gesundheitlichen Voraussetzungen vgl. AHP Nr. 30)

Wenn eines dieser beiden Merkzeichen nicht zutrifft, ist es zu löschen.

Merkzeichen bei Blindheit und Sehbehinderung

Wer allein auf Grund einer Sehbehinderung einen GdB von 60 hat, erhält das Merkzeichen RF. (Befreiung von Rundfunk- und Fernsehgebühren).

Wer auf Grund der Sehbehinderung einen GdB von 70 hat, erhält die Merkzeichen RF, G (erhebliche Gehbehinderung) und B (Notwendigkeit ständiger Begleitung).

Wer auf Grund einer Sehbehinderung einen GdB von 100 hat (hochgradig Sehbehinderte) erhält die Merkzeichen RF, G, H (Hilflos) und B.

Wer auf Grund von Blindheit einen GdB von 100 hat, erhält die Merkzeichen Bl (blind), RF, G, H und B.

Auf die einzelnen Nachteilsausgleiche wird in Heft 07 eingegangen.

Befristung

Bei der Beurteilung prüft der ärztliche Dienst des Versorgungsamtes auch die Frage, ob und ggf. wann eine Nachprüfung des Befundes erfolgen soll. Nach § 69 Abs. 5 S. 3 SGB IX soll Die Gültigkeitsdauer des Ausweises befristet werden. In der Regel wird der Ausweis auf 5 Jahre ab Ausstellungsdatum ausgestellt (§ 6 Abs. 2 Schbawv). Er kann zweimal verlängert werden. In den Fällen, in denen eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, nicht zu erwarten ist, kann der Ausweis jedoch unbefristet ausgestellt werden. Das trifft bei einer festgestellten Blindheit in der Regel zu.

3.3 Bildschirmlesegerät Autofocus-Ausstattung mit Colorfunktion

Landessozialgericht für das Land Niedersachsen 4. Senat Urteil vom 28. Juni 2001 Az: L 4 K

Nr: KSRE069521717

Landessozialgericht für das Land Niedersachsen 4. Senat Urteil vom 28. Juni 2001, Az: L 4 KR 139/99

SGB 5 § 12 Abs 1, SGB 5 § 33 Abs 1

Krankenversicherung - Kostenübernahme - Bildschirm-Lesegerät - Autofocus-Ausstattung mit Colorfunktion

Leitsatz

1. Eine Versicherte, die auf dem linken Auge vollständig erblindet ist und rechts eine Restsehkraft von nur noch 1/16-1/100 besitzt, hat Anspruch auf Versorgung mit einem Bildschirm-Lesegerät plus Autofocus-Ausstattung.

2. Da eine Autofocus-Ausstattung auf dem allgemeinen Markt nicht ohne Colorfunktion erhältlich ist, bezieht sich der Anspruch auf die Ausstattung mit einem Autofocus-Color-Gerät.

Fundstellen

SGb 2002, 213 (Leitsatz 1-2)

Verfahrensgang

vorgehend SG Stade 29. Juni 1999 S 15 KR 139/98 Urteil

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Kostenerstattung für ein Autofocus-Gerät.

Die ... 1947 geborene Klägerin ist Mitglied der Beklagten. Sie ist auf dem linken Auge vollständig erblindet. Auf dem rechten Auge hat sie eine Restsehkraft von 1/16 bis 1/100. Das Gesichtsfeld ist stark konzentrisch eingeengt. Darüber hinaus leidet sie an Diabetes mellitus mit diabetischer Retinopathie beidseits und einem Zustand nach Nierentransplantation 1993.

Sie beantragte im März 1998 die Ausstattung mit einem Bildschirm-Lesegerät mit einer Autofocus-Ausstattung unter Vorlage einer Bescheinigung des Augenarztes Dr K, B, vom 18. Februar 1998 und eines Kostenvoranschlages der R Reha-Technik GmbH vom 12. Februar 1998. Danach sollte der Aufpreis für Spezialversorgung mit elektronischem Bildschirm-Lesegerät Videomatic Ec MPR II -- Autofocus -- strahlungsarme Ausführung -- CCD-Farbgerät mit variabler Multicolor-Funktion und Vollfarbbild 17 "Monitor Vergrößerung 4-40-fach, flimmerfrei, 2.210,-- DM betragen. Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Bremen vom 31. März 1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 9. April 1998 das Bildschirm-Lesegerät Grundversorgung Videomatic M 3 MPR II (Preis: 3.920,00 DM) (Ausstattung: Schwarzweißgerät; Scharfstellung per Hand) gem dem Kostenvoranschlag vom 12. Februar 1998 und lehnte die Übernahme der Kosten für die Autofocus-Ausstattung ab.

Hiergegen legte die Klägerin am 27. April 1998 Widerspruch ein unter Vorlage einer Bescheinigung des Augenarztes Dr K vom 16. April 1998. Sie trug vor, dass sie bei der Benutzung ihres jetzigen Lesegerätes nach ca 10-minütiger Benutzungsdauer regelrecht "sehkrank" werde, was auf die Trägheit der Optik beim Zeilenwechsel zurückzuführen sei. Eine Autofocus-Ausstattung sei aus medizinischen Gründen notwendig. Die Klägerin schaffte das Autofocus-Gerät am 20. April 1998 an (Videomatic Ec M PR II Autofocus-Colorgerät -- Zuzahlung: 2.088,00 DM).

Die Beklagte lehnte den Widerspruch nach Einholung einer Stellungnahme des MDK vom 13. Mai 1998 mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1998 ab. Sie verwies auf die Beurteilung des MDK, wonach die Versorgung mit einem Bildschirm-Lesegerät in Standardausführung schwarz-weiß aus medizinischer Sicht ausreichend sei. Die Autofocus-Ausstattung stelle eine zusätzliche Leistung dar, die sich nicht mehr im Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung bewege. Die Beurteilungen des MDK seien entsprechend ihrer Zweckbestimmung bei der Entscheidung der Krankenkasse über die Gewährung oder Versorgung einer Leistung nach der medizinischen Seite hin richtunggebend. Darüber hinaus sei eine Kostenübernahme ausgeschlossen, weil die streitige Zusatzausstattung des Bildschirm-Lesegerätes mit Autofocus nicht im Hilfsmittelverzeichnis vermerkt sei.

Hiergegen hat die Klägerin am 16. November 1998 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben. Sie hat zur Begründung ausgeführt, dass der MDK den Behinderungsumfang nicht geprüft habe, sondern seine Rechtsauffassung dargelegt habe. Beim Lesen von Büchern und dem manuellen Scharfstellen durch Bedienen von Hebeln und Knöpfen komme es zu Schwindelerscheinungen, wodurch sich die Lesemöglichkeit auf längstens zehn Minuten täglich beschränke.

Die Beklagte hat ein weiteres Gutachten des MDK vom 12. Mai 1999 vorgelegt. Darin heißt es ua:

"Mittels eines Autofocus soll die automatische Scharfstellung des abgebildeten Lesegutes garantiert werden. Bildschirmlesegeräte in der herkömmlichen Ausstattung verfügen ua über Hebel oder Knöpfe, mit denen dieses manuell möglich ist. Wenn das Lesegut flach ist, wie zB die Seite einer Zeitung, Illustrierten, Brief oder Beipackzettel, den man unter eine Glasplatte legen könnte, befindet sich das Lesegut in einer optischen Ebene. Eine Autofocus-Einstellung ist nicht erforderlich, wenn manuell die richtige Tiefenschärfe eingestellt wurde. Das Argument der Patientin, das Bild soll nicht verschwimmen, ist somit aus den o.g. Gründen nicht nachvollziehbar. Eine automatische Tiefeneinstellung wäre zB dann erforderlich, wenn ein Buch gelesen wird, welches zur Mitte der Falz hin in den Seiten umbiegt. In diesem Fall wäre aber, wie oben beschrieben, die manuelle Tiefeneinstellung zumutbar."

Mit Urteil vom 29. Juni 1999 hat das SG Stade die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, dass die Beurteilung der Frage, ob die Autofocus-Einrichtung die Voraussetzungen eines Hilfsmittels im Sinne des § 33 SGB V erfülle, davon abhänge, ob sie erforderlich sei, eine Behinderung auszugleichen. Der Einsatz des Bildschirm-Lesergerätes diene dazu, der Klägerin ein elementares Grundbedürfnis des täglichen Lebens, nämlich das Lesen zu ermöglichen. Nach der Stellungnahme des MDK vom 12. Mai 1999 könne die Klägerin mit dem Bildschirm-Lesegerät und der manuellen Schärfeneinstellung ohne zusätzliche Autofocus-Sonderausstattung alles lesen, was flach sei und in einer optischen Ebene unter der Aufnahmekamera des Lesegerätes liege. Die Notwendigkeit einer sich immer wiederholenden neuen Sehschärfeneinstellung ergebe sich erst dann, wenn zB bei dickeren Büchern durch die Krümmung des jeweils gelesenen Blattes zum Falz des Buches hin, die Sehschärfeneinstellung ständig geändert werden müsse. Nach Auffassung des MDK sei allerdings in diesen Fällen die Benutzung einer manuellen Sehschärfeneinstellung zumutbar. Die Kammer halte diese Einschätzung für zutreffend. Wer klassische oder moderne Literatur lesen wolle, könne fast immer auf Taschenbuchausgaben zurückgreifen. Diese Bücher könnten bei einigem Geschick so aufgeschlagen werden, dass jede gelesene Seite so flach gedrückt werden könne, dass eine automatische Sehschärfeneinstellung durch die Autofocuseinrichtung nicht mehr erforderlich sei. Angesichts dieser grundsätzlichen Möglichkeit bestehe der Vorteil, den das Autofocus-Gerät beim Lesen dem Lesenden verschaffe, in keinem wirtschaftlich angemessenen Verhältnis mehr zu den Kosten der Autofocus-Einrichtung von 2.200,-- DM, die zudem nur mit der ohnehin nicht erforderlichen Multicolor-Funktion zwingend verbunden sei.

Gegen das am 8. Juli 1999 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 9. August 1999 -- einem Montag -- Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen eingelegt und vorgetragen: Dem SG hätten ganz offenbar die eigenen Lesegewohnheiten und die eigene unzureichende Ansicht eines Taschenbuches ausgereicht, um eine Beurteilung des Sachverhaltes vorzunehmen. Auch ein Taschenbuch weise je nach Bindequalität bereits bei Beginn den Umstand auf, dass es nicht unter der Abbildefläche "plan" gedrückt werden könne, sondern selbst bei Taschenbüchern hänge, beispielsweise bei Beginn eines Buches, die linke Buchhälfte nach außen gesehen herunter, weil sich auch ein Taschenbuchrücken nicht in der Form herunterdrücken lasse, wie es dem SG vorschwebe. Weil überwiegend nicht eine plane Abbildungsebene beim Lesen eines Buches erreicht werden könne, müsse die manuelle Schärfeneinstellung ständig betätigt werden. Hierbei sei im Verlauf einer jeden Zeilen die Schärfeneinstellung mehrfach zu verändern, denn der Zeilenanfang auf der linken Seite habe eine andere Schärfeneinstellung als die rechte Seitenhälfte zur Buchmitte, wobei das manuelle Nachführen der Schärfeneinstellung, bei dem die Kontrolle durch das Benutzerauge ausgeübt werde, der Grund dafür sei, dass es zu der "Sehkrankheit" bzw dem "schummrigen Gefühl" bei der Klägerin nach kurzer Lesezeit komme. Die Multicolor-Ausstattung, zu der der MDK ausführlich Stellung genommen habe, werde von der Klägerin nicht benötigt und nicht begehrt. Dass der Hersteller die Autofocus-Ausstattung nur mit dem Colorgerät kombiniere, könne nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Die Klägerin benötige die Autofocus-Einrichtung nicht nur zum Lesen, sondern damit sei es ihr auch möglich, einen Knopf anzunähen, zu stricken oder sich selbst die Fingernägel zu feilen. Auch seien die übrigen schwerwiegenden Erkrankungen der Klägerin zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 29. Juni 1999 und den Bescheid der Beklagten vom 9. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 1998 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten für den Videomatic Ec MPR II Autofocus-Color-Gerät abzüglich der bereits gezahlten 3.920,-- DM zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Auskünfte der Firma R Reha Technik vom 30. Januar 2001 und 18. März 2001 eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Akte des SG Stade und der Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig. Sie ist gem § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist nicht gem § 144 Abs 1 Nr 1 SGG ausgeschlossen, denn der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 1.000,-- DM. Die Klägerin begehrt mit ihrer Berufung die Erstattung des Betrages von 2.088,00 DM. Dabei handelt es sich um den Differenzbetrag zwischen dem von der Beklagten übernommenen Lesegerät Videomatic M3 und dem von der Klägerin angeschafften Gerät Videomatic Ec Autofocus.

Die Berufung ist auch begründet.

Das Urteil des SG Stade vom 29. Juni 1999 ist aufzuheben. Der Bescheid der Beklagten vom 9. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 1998 ist rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ist § 13 Abs 3 Sozialgesetzbuch -- Gesetzliche Krankenversicherung -- (SGB V), denn die Klägerin hat das begehrte Gerät nach der Ablehnung durch die Beklagte am 9. April 1998 am 20. April 1998 selbst angeschafft. Gem § 13 Abs 3 SGB V hat die Krankenkasse die Kosten für eine selbstbeschaffte notwendige Leistung zu erstatten, wenn die Kasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig hat erbringen können (1. Alternative) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch Kosten entstanden sind (2. Alternative). Die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 2. Alternative liegen vor. Die Beklagte hat die Erbringung der begehrten Leistung zu Unrecht abgelehnt.

Gem § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB V ua die Versorgung mit Hilfsmitteln. Versicherte haben gem § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gem § 12 Abs 1 Satz 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 Satz 2 SGB V).

Die Voraussetzungen des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V liegen hier vor.

Das Autofocus-Gerät ist nicht von der Regelung des § 34 Abs 4 SGB V über den Ausschluss von Heil- und Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenen therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis erfasst.

Ein Ausschluss des Autofocus-Gerätes aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften zum Hilfsmittelverzeichnis. Diese ermächtigen nicht dazu, den Anspruch des Versicherten einzuschränken, sondern nur dazu, eine für die Gerichte unverbindliche Auslegungshilfe zu schaffen. Nach § 128 SGB V erstellen die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam ein Hilfsmittelverzeichnis, in dem die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. Nach § 28 Satz 2 SGB V sind in dem Verzeichnis auch die für die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel vorgesehenen Festbeträge oder vereinbarten Preise anzugeben. Das Hilfsmittelverzeichnis schließt Autofocus-Geräte nicht aus (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18 S 89).

Bei dem Autofocus-Gerät handelt es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens im Sinne des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Darunter fallen nur Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5; SozR 3-2500 § 33 Nr 27). Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt oder hergestellt worden sind und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden, sind grundsätzlich nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Dies gilt selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet sind (zB Brillen, Hörgeräte); denn Bewertungsmaßstab ist insoweit der Gebrauch eines Gerätes durch Menschen, die nicht an der betreffenden Krankheit oder Behinderung leiden. Umgekehrt ist ein Mittel auch trotz geringer Verbreitung in der Bevölkerung und trotz hohen Verkaufspreises als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen, wenn er schon von der Konzeption her nicht überwiegend für Kranke oder Behinderte gedacht ist (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 19).

Das Autofocus-Gerät wird nicht allgemein im täglichen Leben verwendet und auch nicht üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig benutzt. Es ist nach der Herstellerauskunft der Firma R Reha-Technik GmbH vom 30. Januar 2001 ausschließlich für hochgradig Sehbehinderte bestimmt.

Es ist für die Klägerin auch erforderlich im Sinne des § 33 SGB V. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu derartigen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens, wie Gehen, Stehen, Greifen, Hören, Sehen, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen von lebensnotwendigem Grundwissen und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst. Das Grundbedürfnis auf Information steht im engen Zusammenhang mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Die Information ist für Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Informationsbedarf und -möglichkeiten nehmen in der modernen Gesellschaft ständig und im steigenden Maße zu, wobei immer wieder neue qualitative Stufen erreicht werden. Diesem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen, so dass die bloße Verweisung eines Blinden auf Rundfunk oder Audiotheken nicht zulässig ist (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 S 76; § 33 Nr 26). Zum selbstbestimmten Leben gehört auch die Information im persönlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe, dabei kommt es nicht darauf an, ob ein außerordentlich hoher Lesebedarf besteht, sondern es reicht, wenn der Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 Seite 74).

Mit Hilfe des Bildschirmlesegerätes mit Autofocusausstattung ist es der Klägerin möglich, Texte, wie zB Zeitschriften oder Arzneibeipackzettel und Bücher zu lesen.

Zur Befriedigung des Grundbedürfnisses auf Information gehört aber auch das Lesen von gebundenen Büchern und Taschenbüchern. Fraglich ist bereits, ob die Klägerin nur auf das Lesen von Taschenbüchern verwiesen werden darf. Dies braucht jedoch nicht entschieden, denn auch ein Taschenbuch kann nach ihren überzeugenden und nachvollziehbaren Schilderungen nicht immer plan auf die Abbildefläche gedrückt werden, so dass ständig die manuelle Schärfeneinstellung betätig werden müsste. Der MDK hat insoweit in seinem Gutachten vom 12. Mai 1999 bestätigt, dass eine automatische Tiefeneinstellung dann erforderlich ist, wenn ein Buch gelesen wird, welches zur Mitte der Falz hin in den Seiten umbiegt.

Eine manuelle Schärfeneinstellung ist der Klägerin aufgrund der von ihr nachvollziehbar geschilderten dann in Kürze auftretenden Schwindelerscheinungen nicht zumutbar. Die Klägerin hat glaubhaft beschrieben, dass nach etwa 10-minütiger Benutzungsdauer aufgrund der Trägheit der Optik beim Zeilenwechsel ein "schummriges" Gefühl eintritt, das mit der "Seekrankheit" vergleichbar ist. Der behandelnde Augenarzt Dr K hat am 16. April 1998 wegen der mit dem geringen Sehvermögen verbundenen Belastungen beim Sehen mit dem Bildschirmlesegerät eine zusätzliche Autofocus-Ausstattung für erforderlich gehalten. Der MDK hat sich mit dem Vorbringen der Klägerin weder hinreichend auseinandergesetzt noch hat er es bestritten. In seiner Stellungnahme vom 31. März 1998 hat er lediglich allgemein auf das Grundbedürfnis der Informationsbeschaffung hingewiesen und in der Stellungnahme von 13. Mai 1998 darauf verwiesen, dass eine Autofocus-Ausstattung nach dem Hilfsmittelkatalog keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Die Ärztin Dr H hat in ihrem sozialmedizinischen Gutachten vom 12. Mai 1999 umfangreiche Rechtsausführungen zu dem bereits bewilligten Bildschirmlesegerät gemacht. Sie hat darin auch eingeräumt, dass eine automatische Tiefeneinstellung dann erforderlich ist, wenn ein Buch gelesen wird, welches zur Mitte der Falz hin in den Seiten umbiegt. Mit den dabei -- glaubhaft beschriebenen -- auftretenden Krankheitserscheinungen bei der Klägerin hat sie sich demgegenüber nicht auseinandergesetzt.

Mit Hilfe des Autofocus-Gerätes ist es der Klägerin nach ihrem Vorbringen möglich, Bücher zu lesen. Sie benutzt es nach ihrer Auskunft vom 5. März 2001 täglich.

Auf die Hilfe anderer Personen, die ihr Vorlesen würden, kann die Klägerin nach der Rechtsprechung des BSG nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18, Nr 28 S 152). Auch der Verweis auf den Rundfunk ist nicht zulässig (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26).

Dass der Ausgleich hier ua auf dem Gebiet der Freizeitbetätigung erfolgt, steht dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen, denn soweit ein dieses Gebiet übergreifendes sog Grundbedürfnis betroffen ist, fällt auch der Ausgleich der Folgen der Behinderung auf diesem Gebiet in die Leistungspflicht der Krankenkassen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26 S 152; SozR 3-2500 § 33 Nr 16 S 73).

Das Autofocus-Gerät ist auch wirtschaftlich im Sinne einer begründbaren Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels. Das Anerkennen eines Grundbedürfnisses auf umfassende Information bedeutet keine vollständig mit den Möglichkeiten des Gesunden gleichziehende Information des blinden Versicherten; der Anspruch findet insbesondere seine Grenze dort, wo eine nur geringfügige Verbesserung eines auf breitem Feld anwendbaren Hilfsmittels völlig außer Verhältnis zur Belastung der Versichertengemeinschaft geraten würde. Insoweit hat die Rechtsprechung auf eine begründbare Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels abgestellt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4 Bildschirm-Lese-Gerät; SozR 3-2500 § 33 Nr 16 -- Lese-Sprech-Gerät --; SozR 3-2500 § 33 Nr 18 -- Farberkennungs-Gerät --; SozR 3-2500 § 33 Nr 20 -- Luftreinigungs-Gerät --; SozR 3-2500 § 33 Nr 26 -- Braillezeile --).

Zunächst muss durch das Gerät ein Ausgleich in nicht nur unwesentlichem Umfang erreicht werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4, SozR 5420 § 16 Nr 1 Seite 3). Für die Beurteilung, ob ein Hilfsmittel die Minderfunktion des geschädigten Körperorgans in nicht unwesentlichem Umfang verbessert, ist entscheidend, welche Gebrauchsvorteile das Hilfsmittel zu bieten vermag. Durch das Autofocus-Gerät wird die Sehbehinderung der Klägerin objektiv wesentlich ausgeglichen. Die Klägerin benötigt das Autofocus-Gerät, um Bücher lesen zu können. Darüber hinaus ist der zeitliche Umfang der beabsichtigten Nutzung und die Bedeutung der jeweils erschließbaren Informationen maßgebend. Bei einem durchschnittlichen Informationsbedarf muss der zeitliche Umfang der Nutzung nach der Rechtsprechung des BSG wöchentlich durchschnittlich mindestens fünf Stunden betragen, um die auf die Krankenkasse entfallenen Kosten zu rechtfertigen (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 Seite 79). Dazu hat die Klägerin vorgetragen, dass sie das Gerät täglich benutzen würde.

Die Klägerin hat auch Anspruch auf den vollständigen Differenzbetrag zwischen der von der Beklagten übernommenen Grundversorgung Videomatic M3 MPR II und dem von der Klägerin angeschafften Videomatic Ec M PR II Autofocus-Color-Gerät. Nach der Herstellerauskunft der Firma Reinecker-Reha-Technik vom 30. Januar 2001 ist ein separates Autofocusgerät nicht lieferbar. Zwar gibt es nach der Auskunft vom 18. März 2001 Standard-Colorgeräte ohne Autofocus; die Autofocusausstattung ist jedoch in Kombination mit der von der Klägerin nicht benötigten Colorfunktion erhältlich und nicht in Kombination mit der Grundversorgung Videomatic M 3. Dieser Umstand kann jedoch nicht zu Lasten der Klägerin gehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Es haben keine gesetzlichen Gründe vorgelegen, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).

3.4 Blindenführhund - Hilfsmitteleigenschaft

Urteil des SG Aachen vom 22. Oktober 2002, Az: S 13 KR 30/02

Nr: KSRE073280817

SG Aachen 13. Kammer Urteil vom 22. Oktober 2002, Az: S 13 KR 30/02

SGB 5 § 33 Abs 1 S 1, SGB 5 § 92 Abs 1 S 2 Nr 6, HilfsMRL Nr 2, HilfsMRL Ziff 2, BGB § 90a S 2, TierVerbG Art 1 Nr 2 Fassung: 1990-08-20

Krankenversicherung - Hilfsmitteleigenschaft - Blindenführhund - Definition Hilfsmittel - "sächliches" Mittel - Leistungspflicht - Rechtsstellung - Tier - bürgerliches Recht

Orientierungssatz

1. Der Hilfsmitteleigenschaft eines Blindenführhundes steht nicht die begriffliche Definition von Hilfsmitteln in den gemäß § 92 Abs 1 S 2 Nr 6, Abs 2 SGB 5 erlassenen "Hilfsmittel-Richtlinien" entgegen.

2. Soweit § 90a BGB, eingefügt durch Art 1 Nr 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Recht vom 20.8.1990 bestimmt, dass Tiere keine Sachen sind, begründet dies keinen Ausschluss der Blindenführhunde aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen.

Weitere Fundstellen
Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf einen Blindenführhund.

Der am 23.07.1951 geborene Kläger ist aufgrund einer beidseitigen Amaurose erblindet. Er übt keine Berufstätigkeit aus. Vom 09. bis 31.07.2001 nahm er an einem Orientierungs- und Mobilitätstraining (OuM-Training) zwecks selbständiger Fortbewegung mit einem Langstock teil. Der Mobilitätstrainer berichtete unter dem 01.08.2001, der Kläger habe das Trainingsziel erreicht; er sei in der Lage ohne fremde Hilfe Besorgungen und Spaziergänge zu machen; Sicherheit sei bei bewusstem Einsatz der Stocktechniken gegeben.

Am 12.11.2001 beantragte der Kläger die Bewilligung eines Blindenführhundes unter Vorlage einer entsprechenden Hilfsmittelverordnung des Augenarztes Dr. ... vom 12.07.2001. In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme vom 20.12.2001 erklärte Dr. ..., der Kläger sei zwar nach dem OuM-Training in der Lage, sich in bekannter Umgebung mit dem Langstock zurecht zu finden; aber in weniger bekannter oder völlig unbekannter Umgebung sei dies nicht möglich. Zu derselben Einschätzung gelangte Frau Dr. ... in der von der Beklagten veranlassten Stellungnahme des medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein vom 28.12.2001. Dr. ... befürwortete aus sozialmedizinischer Sicht die Kostenübernahme für den beantragten Blindenführhund unter Hinweis darauf, dass eine artgerechte Haltung des Tieres gewährleistet sei.

Durch Bescheid vom 28.01.2002 lehnte die Beklagte die beantragte Versorgung mit einem Blindenführhund ab mit der Begründung, Hilfsmittel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seien ausschließlich sächliche Mittel; Blindenführhunde seien aber gemäß § 90a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) keine Sachen. Im Übrigen sei der Blindenführhund zur Befriedung eines Grundbedürfnisses des täglichen Lebens nicht erforderlich, da der Kläger nach dem OuM-Training in der Lage sei, sich sicher und selbständig fortzubewegen.

Den hiergegen am 06.02.2002 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 25.06.2002 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 09.07.2002 Klage erhoben. Er trägt vor, nach dem OuM-Training im Juli 2001 an keiner weiteren Schulung teilgenommen zu haben. Mit dem Blindenstock könne er sich nur in gewohnter bekannter Umgebung bewegen, in ungewohnter unbekannter Umgebung sei das nur mithilfe seiner Ehefrau möglich. Da seine Ehefrau tagsüber arbeite, sei er bei plötzlich auftretenden Vorkommnissen gehalten, fremde Personen um Hilfe zu bitten. Ein Blindenführhund könne ihm in großem Maße behilflich sein, seine krankheitsbedingt weggefallene optische Orientierung und Sicherheit zurückzugewinnen. Mit einem Blindenführhund könne er außerhalb der ihm bekannten näheren Umgebung die notwendigen Arztbesuche, anfallende Besorgungen und Einkäufe sowie Spaziergänge alleine durchführen. Darüber hinaus könne ein Blindenführhund ihn auch vor Verletzungen bewahren, da er sich trotz Langstockbenutzung hin und wieder an Gegenständen stoße. Durch die langjährige Medikamenteneinnahme sei seine Haut verhältnismäßig dünn geworden, weshalb sofort offene oder schlecht heilende Wunden, Blutergüsse o.ä. auftreten. Schließlich sehe er den Blindenführhund als Gefährten, der ihm eine Aufgabe gebe. Er sei den ganzen Tag alleine und habe keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten. Mit dem Blindenführhund könne er Kontakt zu seinen Mitmenschen finden; der Hund würde ihm helfen, Ängste und Barrieren zu überwinden.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.06.2002 zu verurteilen, ihm einen Blindenführhund zur Verfügung zu stellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist erneut auf die Vorschrift des § 90a BGB und meint, Tiere könnten nicht als Hilfsmittel nach dem Recht der GKV gelten, da Tiere keine Sachen seien. Sie verweist darauf, dass der Tierschutz seit Neuestem in Artikel 20a des Grundgesetzes (GG) verankert sei. Unabhängig davon seien die Voraussetzungen für die Anschaffung eines Blindenführhundes als Leistung der Krankenversicherung auch deshalb nicht erfüllt, weil noch ein Restsehvermögen vorhanden sei. Im Übrigen habe nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot eine Abwägung der Kosten und Gebrauchsvorteile zu erfolgen. Da der Kläger erfolgreich an einem OuM-Training teilgenommen habe, sei er in der Lage, sich mittels Langstock selbständig und sicher fortzubewegen. In der mündlichen Verhandlung vom 22.10.2002 hat die Beklagte erstmals Unterlagen zu einem sogenannten Blindenleitgerät (Ultraschallbrille) vorgelegt.

Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht von dem Augenarzt Dr. ... eingeholt. Dieser hat am 30.09.2002 mitgeteilt, der Kläger sei auf dem linken Auge erblindet, auf dem rechten Auge bestehe mit Brille noch ein Restsehvermögen, das jedoch so gering sei, dass man von einer praktischen Erblindung auch des rechten Auges sprechen könne. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Er hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund.

Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Ein Blindenführhund ist nicht nach der Rechtsverordnung gemäß § 34 Abs. 4 SGB V von der Leistung der GKV ausgeschlossen. Auch ist ein Blindenführhund kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da er für die speziellen Bedürfnisse sehbehinderter Menschen gedacht und entsprechend geschult ist; er wird nur von diesem Personenkreis benutzt.

Der Hilfsmitteleigenschaft eines Blindenführhundes steht auch nicht die begriffliche Definition von Hilfsmitteln in den gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, Abs. 2 SGB V erlassenen "Hilfsmittel-Richtlinien" entgegen. Nach deren Ziffer 2 sind Hilfsmittel "sächliche" medizinische Leistungen. Soweit § 90a BGB, eingefügt durch Artikel 1 Nr. 2 des Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Recht vom 20.08.1990 (BGBl. I S. 1762) bestimmt, dass Tiere keine Sachen sind, begründet dies entgegen der Auffassung der Beklagten keinen Ausschluss der Blindenführhunde aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen. Denn ebenso wie die Änderung des Artikel 20a GG durch das Gesetz vom 26. Juli 2002 (BGBl. I S. 2862) dient die Vorschrift des § 90a BGB dem Tierschutz. Tiere sind, wie es § 1 Satz 1 Tierschutzgesetz ausdrückt, Mitgefährten für den Menschen. Sie sollen daher insbesondere artgerecht gehalten und nicht in Tierversuchen unnötig gequält werden. § 90a BGB beruht auf dem Gedanken, dass das Tier als Mitgeschöpf nicht der Sache gleichgestellt werden darf (Steding, JuS 96, 863). Daraus folgt aber nicht, dass deshalb der Diebstahl (§ 242 StGB) oder die Beschädigung (§ 303 StGB) von Tieren nicht mehr strafbar sein soll. Und ebenso wenig soll die Vorschrift dazu dienen, die gesetzliche Krankenversicherung von der grundsätzlichen Verpflichtung zu befreien, sehbehinderten Versicherten Blindenführhunde zur Verfügung zu stellen. § 90a Satz 2 BGB bestimmt deshalb auch ausdrücklich, dass auf Tiere die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist. Da insoweit nichts anderes bestimmt ist, gelten die Hilfsmittel-Richtlinien auch für Blindenführhunde.

Der Kläger wohnt in einem Einfamilienhaus mit Grundstück, weshalb die artgerechte Haltung eines Tierhundes gewährleistet werden kann (vgl. MDK-Stellungnahme vom 28.12.2001).

Der Blindenführhund ist als Hilfsmittel der GKV auch erforderlich, um eine Behinderung des Klägers auszugleichen. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung (BSG SozR-3 2500 § 33 Nrn. 3 und 5) dann "erforderlich", wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen, Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfasst. Maßstab ist stets der gesunde Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder der behinderte Mensch durch die medizinische Rehabilitation oder mithilfe des von der Krankenkasse gelieferten Hilfsmittels wieder aufschließen soll (vgl. BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 1; BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 7, 13 und 16 sowie die Rechtsprechung zur Reichsversicherungsordnung: BSG SozR 2200 § 182b Nrn. 29, 34 und 37). Blindheit bedeutet u.a. den Verlust der Orientierungsfähigkeit und als Folge davon der Mobilität. Durch einen Blindenführhund wird die zur Umweltkontrolle erforderliche Sehfähigkeit ausgeglichen. In diesem Sinne ermöglicht der Führhund allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens -- so insbesondere die Teilnahme des Blinden am Straßenverkehr -- und dient damit elementaren Grundbedürfnissen (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 19).

Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Krankenkasse zur Befriedigung dieses Grundbedürfnisses jegliche Hilfsmittel zur Verfügung stellen muss, die den Behinderten in die Lage versetzen, Wegstrecken jeder Art und Länge zurückzulegen. Die Leistungspflicht der GKV beschränkt sich auf einen Basisausgleich (BSG, Urteil vom 16.09.1999 -- B 3 KR 2/99 R). Zu den vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des Gehens gehört die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die -- üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden -- Stellen erreichen zu können, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteile vom 16.09.1999 -- B 3 KR 8/98 R, 13/98 R und 2/99 R). Dementsprechend hat das Bundessozialgericht in den vorgenannten Entscheidungen einen Anspruch auf ein "Rollstuhl-Bike" neben einem Rollstuhl oder anstelle eines solchen für nicht erforderlich gehalten. Diese Rechtsprechung kann jedoch auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden. Der Kläger kann sich zwar innerhalb seiner Wohnung und in der näheren ihm bekannten Umgebung mittels des Blindenlangstocks sicher bewegen. In anderer im unbekannter Umgebung kann er jedoch den Langstock nicht mehr sicher einsetzen und ist ohne Blindenführhund auf die Hilfe seiner Ehefrau oder anderer Personen angewiesen. Insofern unterscheidet er sich von dem Rollstuhlfahrer, der seinen Rollstuhl auch in fremde ihm unbekannte Umgebungen (z.B. in den Urlaub) mitnehmen und sich an diesen neuen Orten dann wieder mit dem Rollstuhl im Nahbereich bewegen kann. Beim Kläger kommt hinzu, dass er, da seine Frau berufstätig ist, tagsüber alleine ist und allein mithilfe des Langstocks kaum Gelegenheit hat, in Kommunikation mit anderen zu treten und so seiner Vereinsamung vorzubeugen. Dementsprechend hat nicht nur der Augenarzt Dr. ..., sondern auch der von der Beklagten zur Beurteilung der Erforderlichkeit des Hilfsmittels herangezogene MDK (vgl. § 275 Abs. 3 Nr. 2 SGB V) durch Frau Dr. ... die Erforderlichkeit eines Blindenführhundes für den Kläger bejaht und die Bewilligung dieses Hilfsmittels befürwortet. Dem schließt sich die Kammer an.

Soweit die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung ein "Blindenleitgerät (Ultraschallbrille)" angesprochen hat, ist der Kammer nicht ersichtlich, inwieweit dies im Hinblick auf die besonderen beim Kläger vorliegenden Umstände eine Alternative zum Blindenführhund sein sollte. Bereits aus von der Beklagten vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass der zweckentsprechende Gebrauch des Blindengerätes (Brille) einige Anforderungen an den Benutzer stellt und die Eignung zunächst in einem Test zu erfolgen hat, dem sich sodann die Ausbildung im Gebrauch anschließen muss. Auch zur Wirtschaftlichkeit dieses Hilfsmittels im Vergleich zu einem Blindenführhund hat die Beklagte keine Unterlagen vorgelegt. Selbst wenn die Geeignetheit und die Wirtschaftlichkeit eines Blindenleitgerätes beim Kläger zu bejahen wäre, ist zu berücksichtigten, dass der Versicherte gemäß § 33 SGB I auch beim Sachleistungsprinzip unter verschiedenartigen, aber gleichermaßen geeigneten und wirtschaftlichen Hilfsmitteln die Wahl hat (BSG Urteil vom 03.11.1999 -- B 3 KR 16/99 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

3.5 Blindenführhund/Langstock - Erforderlichkeit

SG Hamburg 23. Kammer Gerichtsbescheid vom 26. September 2001, Az: S 23 KR 672/99

Nr: KSRE071681317

SG Hamburg 23. Kammer Gerichtsbescheid vom 26. September 2001, Az: S 23 KR 672/99

SGB 5 § 33 Abs 1

Krankenversicherung - Hilfsmittel - Blindenführhund - Grundbedürfnis - Basisausgleich - körperlicher Freiraum - Orientierung und Fortbewegung - Langstock - Erlernen - Gebrauch

Leitsatz

Die Ausstattung mit einem Blindenführhund zählt bei Blinden, welche die iS eines Basisausgleichs für die ausreichende Orientierung und Fortbewegung mithilfe eines Langstocks beherrschen oder erlernen können, grundsätzlich nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Diese Entscheidung wird zitiert von
SGb 2002, 96-98, Riederle, Georg (Entscheidungsbesprechung)

Tatbestand

Die Klägerin möchte, daß die Beklagte die Kosten für einen Blindenführhund übernimmt.

Sie ist 1966 geboren und leidet seit 1973 an diabetes, in dessen Folge sie 1988 erblindete und in dessen weiterer Folge eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz eintrat, weshalb 1998 eine Nierentransplantation erfolgte.

Im Oktober 1998 wandte sie sich mit der Verordnung eines Blindenführhundes durch Dres. H. M. vom 05.10.1998 sowie einem ausführlichen Bericht und Kostenvoranschlag der Blindenführhundschule S. vom 08.10.1998 an die Beklagte.

Die Beklagte veranlaßte eine Begutachtung durch den MDK, die durch Dr. Ch. am 07.01./14.01.1999 mit dem Ergebnis erfolgte, daß die Klägerin in vollem Umfang Langstocktechniken beherrsche und die Kostenübernahme für einen Blindenführhund zur aus allgemeinmedizinischen Gesichtspunkten sinnvollen Steigerung der Eigenmobilität in das ggf. nach § 12 SGB V eingeschränkte Ermessen der Beklagten gestellt werde. Mit Bescheid vom 04.02.1999 lehnte darauf die Beklagte eine Kostenübernahme ab, weil die Klägerin im Sinne des § 12 SGB V ausreichend versorgt sei.

Ihren dagegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, daß die Orientierung mit dem Langstock mit Schwierigkeiten und Gefahren verbunden und je nach Witterungsverhältnissen teilweise unmöglich sei, während ein Blindenhund selbständig und sicher bei Wind und Wetter und durch jeglichen Verkehr führe, zugleich selbst ein hohes Maß an Bewegung benötige und so für sie als Diabetikerin zu einem positiven und Insulin einsparenden Nebeneffekt führe; sie fügte ihrem Widerspruch Atteste ihres Nervenarztes Dr. F. vom 14.04.1999, ihrer Internisten Dres. D., B., Sch. vom 08.04.1999 und ihrer Augenärzte Dres. H., M. vom 15.04.1999 bei.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des MDK ein, in der Dr. B. am 27.09.1999 das Ergebnis des Vorgutachtens bestätigte. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.11.1999 wies die Beklagte darauf den Widerspruch unter Berufung auf §§ 12, 33 SGB V zurück.

Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung die Klägerin ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren weiter ausgeführt und u.a. darauf hingewiesen hat, daß nicht nur ihre Mobilität durch einen Blindenführhund erheblich verbessert würde, sondern auch verschiedene Gefahren massiv vermindert würden, u.a. die Gefahr von Verletzungen durch Sturz oder Kollision mit nicht erkannten Hindernissen, was für sie im Hinblick auf ihre im vorderen Bauchraum transplantierte und damit für Verletzungen durch Stürze auf den Bauch oder ähnliche Verletzungsrisiken besonders exponierte Niere von besonderer Bedeutung wäre; sie hat dazu Bescheinigungen von Dres. D., B., Sch. vom 10.12.1999 über nach einer Sturzverletzung vom 30.11.1999 noch bestandene Schwellung am rechten Schienbein nebst Auflagerung von Blutkrusten und vom 02.10.2000 über einen bierdeckelgroßen Bluterguß am linken Oberschenkel nach Kollision mit einem vorstehenden Metallteil auf der Straße eingereicht.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 04.02.1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.11.1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten eines Blindenführhundes zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Befundberichte von Dres. D., B., Sch. vom 14.09.2000, Dres. H., M. vom 21.09.2000 und Dr. F. vom 19.12.2000 eingeholt und den Augenarzt Dr. W. aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin vom 02.04.2001 das Gutachten vom 16.04.2001 erstatten lassen. Wegen dessen Inhalts sowie weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, in der Sache indessen unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme von Kosten eines Blindenführhundes.

Solchem Anspruch steht entgegen, daß die Klägerin einen Blindenführhund nicht im nach § 33 SGB V nötigen Sinne zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse benötigt.

Wird nämlich eine Organfunktion wie das Sehen durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche gleichermaßen, sondern nur noch für bestimmte Lebensbereiche weitergehend ausgeglichen, so kommt es nach ständiger Rechtsprechung des BSG nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen; eine Verbesserung des Behinderungsausgleichs auf beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene sowie im Freizeitbereich reicht dazu nicht aus (vgl. z.B. BSG 06.08.1998 -- B 3 KR 3/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 29 m.w.N.).

Zu derartigen Grundbedürfnissen zählen nur die allgemeinen Verrichten des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen die Kommunikation mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (vgl. BSG a.a.O. S. 174).

Die Erschließung dieser "gewissen" -- körperlichen und geistigen -- Freiräume gehört dabei aber nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, und ist nicht im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den -- letztlich unbegrenzten -- Kommunikations- und Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden zu verstehen (vgl. BSG a.a.O.); im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung besteht Anspruch nur auf eine ausreichende Versorgung nach dem jeweiligen Stand der Medizin und Technik, soweit Grundbedürfnisse betroffen sind, nicht aber auf eine optimale Ausstattung zum umfassenderen Ausgleich in allen Lebensbereichen (vgl. BSG 03.11.1999 -- B 3 KR 3/99 R = SozR 3-2500 § 33 Nr 34).

Die Ausstattung mit einem Blindenführhund zählt daher bei Blinden, welche die in dem genannten Sinne eines Basisausgleichs ausreichende Orientierung und Fortbewegung mithilfe eines Langstocks erlernen können oder -- wie im Falle der Klägerin -- bereits beherrschen, grundsätzlich nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus dem vom Gericht eingeholten Gutachten von Dr. W; denn dieser hat die Anschaffung eines Blindenführhundes lediglich deshalb befürwortet, weil die Klägerin nicht mehr das geringste Sehvermögen hat und aufgrund ihres diabetes auf tägliche Bewegung angewiesen ist. Indessen ist der Langstock ohnehin eine Hilfe nur für Blinde, die -- wie die Klägerin -- über keinerlei noch zur Orientierung taugliches Sehvermögen verfügen, während zahlreiche im Sinne der Sozialgesetze blinden Menschen zur Fortbewegung weder Langstock noch Führhund benötigen, und es ist weder die bei der Klägerin mittels Langstock bestehende -- und im Sinne des obengenannten Basisausgleichs ausreichende -- Orientierungs- und Fortbewegungsmöglichkeit dadurch in Frage gestellt, daß sie gelegentlich Verletzungen auf der Straße erlitten hat oder dadurch, daß für sie körperliche Bewegung durchaus wichtiger ist als für nicht an diabetes leidende Menschen, noch gibt es irgendwelche ernsthaften Anhaltspunkte dafür, daß sie etwa zur Sicherung des Erfolges ihrer internistischen Krankenbehandlung i.S.d. § 33 Abs 1 SGB V eines Blindenführhundes bedürfte, vielmehr ist zwar der Zusammenhang zwischen diabetes und Behandlung einfach (viel Bewegung = wenig Medikamente; wenig Bewegung = viele Medikamente), heißt aber Bewegung keineswegs notwendig die Fortbewegung auf der Straße, sondern mindestens ebensogut mehrfach wöchentlich eine sportliche Betätigung wie etwa Schwimmen oder Gymnastik (vgl. zum bei diabetes anzuratenden körperlichen Training: Corazza, Daimler, Ernst, Federspiel, Herbst, Langbein, Martin, Weiss, Kursbuch Gesundheit, 1991, S. 558; Praxisleitfaden Allgemeinmedizin, Hrsg. Schmidt, Engelhardt, Ziesché, Gesenhues, 1997, S. 942).

Der Erlaß des Gerichtsbescheides beruht auf § 105 Sozialgerichtsgesetz -- SGG; die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

3.6 Blindenführhund - Wahlrecht

Urteil des Sozialgericht Marburg vom 27. Mai 2004

Nr: KSRE097910618

SG Marburg 6. Kammer Urteil vom 27. Mai 2004, Az: S 6 KR 108/03

SGB 5 § 2 Abs 2 S 2, SGB 5 § 12 Abs 1, SGB 5 § 126 Abs 1 S 1, SGB 5 § 127 Abs 1 S 1, SGB 5 § 127 Abs 2 S 2

Krankenversicherung - Kostenübernahme - Ausbildung eines Blindenführhundes - vertragsloser Zustand mit entsprechenden Leistungserbringern

Orientierungssatz

1. Ergibt sich wegen fehlender Vereinbarungen mit Leistungserbringern im Hilfsmittelbereich (hier: Blindenführhundeschulen) eine Preisvielfalt, so kann der Versicherte nicht unter Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs 1 SGB 5 auf den billigsten Anbieter verwiesen werden. Selbst der Durchschnittspreis stellt nicht die im Einzelfall maßgebliche Obergrenze dar.

2. Mangelt es, an von Krankenkassen bzw Landesverbänden von Krankenkassen entwickelten Qualitätsstandards mit entsprechenden Zulassungen von Leistungserbringern und Qualitätskontrollen, sind blinde Versicherte bei der Wahl der Führhundeschule ihres Vertrauens grundsätzlich berechtigt, auf die Qualitätskriterien und die Prüfergebnisse des Deutschen Vereins für Blindenführhunde und Mobilitätshilfen abzustellen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Übernahme der Anschaffungskosten für einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. in Höhe von weiteren 6.305,50 EUR streitig.

Die Klägerin stellte am 17.06.2002 bei der Beklagten Antrag auf Gewährung eines Blindenführhundes gemäß dem beigefügten Kostenvoranschlag der Blindenführhundeschule Dr. S. G. vom 18.03.2002 in Höhe von 23.237,00 EUR bzw. 24.954,71/ 24.206,00 EUR. Die Klägerin legte ergänzend eine augenärztliche Bescheinigung der Dr. Z. vom 05.06.2002 vor, wonach sie beidseits blind sei, sie einen Blindenführhund benötige und auch in der Lage sei, einen solchen Hund zu führen.

Die Beklagte holte daraufhin einen Kostenvoranschlag der Hessischen Blindenführhundeschule B. in B. vom 07.08.2002 ein, der sich auf einen Gesamtbetrag von 17.900,50 EUR beläuft.

Durch Bescheid vom 20.08.2002 teilte die Beklagte der Klägerin mit, die beantragten Kosten in Höhe von 24.954,71 EUR für einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. könnten in diesem Umfang nicht übernommen werden, weil andere Leistungserbringer günstiger seien. So habe die Hessische Blindenführhundeschule B. in B. ein Angebot über 17.900,50 EUR unterbreitet. Sofern sich die Klägerin dennoch für die Blindenführhundeschule Dr. S. G. entscheide, könne nur dieser Betrag gezahlt werden. Der Differenzbetrag sei von der Klägerin zu tragen.

Die Klägerin erhob Widerspruch am 09.09.2002 und machte im Wesentlichen geltend, bei der Blindenführhundeausbildung müssten Qualitätsstandards eingehalten werden. Die Blindenführhundeschule Dr. S. G. erbringe diese Qualitätsstandards, weil sie sich freiwillig der Qualitäts- und Leistungsprüfung des Deutschen Vereins für Blindenführhunde und Mobilitätshilfen e.V. (DVBM) unterwerfe. Bislang gebe es kein Abnahmeverfahren zur Qualitätsprüfung, obwohl ein solches Verfahren von den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenversicherungen zwingend vorgeschrieben sei. Dies habe zur Folge, dass der Versicherte ein Wahlrecht habe und sich an einen Führhundetrainer seines Vertrauens wenden könne. So hätten bereits das Landessozialgericht Bayern und die Sozialgerichte Frankfurt und Gießen entschieden. Bei ihr sei weiter zu berücksichtigen, dass sie bereits einmal mit einem Blindenführhund versorgt worden sei. Dabei habe es sich um eine Billigversorgung gehandelt. Sie habe den Hund wegen dessen Bissigkeit zurückgeben müssen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 17.01.2003 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin habe Anspruch auf Versorgung mit einem Blindenführhund als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kostenübernahme erfolge unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes. Der von der Klägerin vorgelegte Kostenvoranschlag belaufe sich auf 24.206,00 EUR zuzüglich einer Nachschulungspauschale. Das Alternativangebot der Blindenführhundeschule B. belaufe sich dagegen lediglich auf 17.900,50 EUR. In diesem Rahmen sei eine kostenfreie Versorgung als Sachleistung sichergestellt. Sofern sich die Klägerin dennoch für das von ihr eingeholte Angebot entscheide, stehe ihr dies frei. Die dadurch entstehenden Mehrkosten würden jedoch in den eigenverantwortlichen Bereich fallen. Es komme auch nicht darauf an, ob die Blindenführhundeschule über eine Zulassung verfüge, denn bislang seien noch keine Zulassungen ausgesprochen worden, so dass auch der von der Klägerin favorisierte Leistungserbringer über keine Zulassung verfüge. Im Ergebnis verbleibe es dabei, dass sie entweder einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule B. kostenfrei zur Verfügung stelle oder sich an den Kosten eines Blindenführhundes der Blindenführhundeschule Dr. S. G. mit 17.900,50 EUR beteilige.

Die Klägerin hat am 13.02.2003 Klage erhoben. Sie begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Übernahme von weiteren Anschaffungskosten für einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. in Höhe von 6.305.50 EUR. Die Klägerin trägt im Wesentlichen vor, grundsätzlich würden Sachleistungen durch zugelassene Leistungserbringer erbracht. Hier fehle es aber an einer entsprechenden Zulassung deutschlandweit. Dies führe in Abweichung von dem Sachleistungsgrundsatz zum Anspruch auf Kostenerstattung. Das Sozialgericht Frankfurt habe entschieden, dass Preisunterschiede von Blindenführhundeschulen nicht zu Lasten des Versicherten gehen könnten, so lange keine Qualitätskontrollen der Schulen durchgeführt würden und kein einheitlicher Qualitätsstandard der Ausbildung von Blindenführhunden garantiert sei. Aufgrund der fehlenden Zulassungen bzw. des fehlenden einheitlichen Qualitätsstandards habe der Versicherte das Recht, sich selbst mit einem Blindenführhund aus einer Blindenführhundeschule seines Vertrauens zu versorgen. Sie habe sich für die Blindenführhundeschule Dr. S. G. entschieden.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2003 zu verurteilen, die Anschaffungskosten für einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. in Höhe von weitere 6.305,50 EUR zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, der Umstand, dass keine Leistungserbringer für die Versorgung mit Blindenführhunden zugelassen seien, führe nicht dazu, dass hier eine Prüfung nach § 12 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) verwehrt sei. Weiter lasse sich aus § 2 SGB V auch nicht entnehmen, dass eine Sachleistung im Sinne dieser Vorschrift nur dann erbracht sei, wenn ein zugelassener Leistungserbringer diese Leistung abgegeben habe. Sie sei hier in der Lage, einen Anbieter zu benennen, der eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund im Rahmen der Kostenübernahmeerklärung sicherstellen könne. Deshalb bleibe kein Raum für einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin, weil die beantragte Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt worden sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Urteil des Sozialgerichts Frankfurt. Dieser Entscheidung habe die Fallgestaltung zugrunde gelegen, dass die von der Krankenkasse benannte Blindenführhundeschule keinen für den Kläger geeigneten Blindenführhund zur Verfügung stellen konnte. Im vorliegenden Fall sei jedoch nicht ersichtlich, dass die von ihr benannte Blindenführhundeschule keinen für die Klägerin geeigneten Blindenführhund zur Verfügung stellen könne. Es ergäben sich hier aus den vorgelegten Unterlagen keine Besonderheiten bezüglich der angebotenen Blindenführhunde. Die beiden Kostenvoranschläge enthielten keine wesentlich voneinander abweichenden Leistungen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, denn sie ist insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben worden.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Übernahme der Anschaffungskosten für einen Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. in Höhe von weiteren 6.305,50 EUR. Der angefochtene Bescheid vom 20.08.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2003 ist rechtswidrig.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Der Anspruch umfasst nach § 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch. Die Hilfsmittelversorgung unterliegt dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V, wonach Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkasse nicht bewilligen.

Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung (BSG, Urteil vom 25.02.1981, Az: 5a/5 RKn 35/78 = SozR 2200 § 182b Nr. 19 = BSGE 51, 206-209), was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist.

Die Versorgung der Klägerin mit einem Blindenführhund der Blindenführhundeschule Dr. S. G. ist auch notwendig und wirtschaftlich im Sinne der vorstehenden Vorschriften. Dabei hat sich die Kammer von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Für die Erbringung von Sach- und Dienstleistungen sowie die Versorgung mit Hilfsmitteln hat der Gesetzgeber die Pflicht der Krankenkassen bzw. der Landesverbände der Krankenkassen geregelt, Verträge mit den Leistungserbringern bzw. deren Verbänden zu schließen (§§ 2 Abs. 2 Satz 2 und 127 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGB V). Darüber hinaus ist in § 126 Abs. 1 Satz 1 SGB V geregelt, dass Hilfsmittel an Versicherte nur von zugelassenen Leistungserbringern abgegeben werden dürfen. Beide Vorgaben sind hier jedoch nicht erfüllt. Weder existieren im Hinblick auf Blindenführhunde Verträge mit Leistungserbringern noch sind bislang entsprechende Leistungserbringer zugelassen worden. Gründe dafür, dass beiden Vorgaben trotz klarer gesetzlicher Regelungen nicht Rechnung getragen worden ist, sind nicht ersichtlich. Soweit als Konsequenz aus den fehlenden vertraglichen Vereinbarungen erhebliche Preisunterschiede bestehen, können diese nicht zu Lasten des Versicherten gehen. Insofern haben es die Krankenkassen bzw. die Landesverbände der Krankenkassen in der Hand, Preisvereinbarungen mit den Leistungserbringern zu treffen (§ 127 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Ergibt sich wegen fehlender entsprechender Vereinbarungen eine Preisvielfalt, so kann der Versicherte nicht unter Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V auf den billigsten Anbieter verwiesen werden. Selbst der Durchschnittspreis stellt nicht die im Einzelfall maßgebliche Obergrenze dar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Versorgung eines Versicherten mit einem Blindenführhund um einen Sonderfall handelt. Hierbei steht aus naheliegenden Gründen die Qualität der Ausbildung des Hundes ganz im Vordergrund. Der Versicherte muss sich in jeder Lage und insbesondere im Straßenverkehr auf die Fähigkeiten des Führhundes verlassen können. Er vertraut ihm gewissermaßen sein Leben an. Dies setzt ein tragfähiges Vertrauensverhältnis voraus, dass nur erreicht werden kann, wenn eine solide Ausbildung des Führhundes erfolgt und zudem der Versicherte im Führen des konkret für ihn vorgesehenen Hundes geschult wird. Nur so entsteht ein Führgespann, dass weder sich selbst noch Dritte gefährdet. Vor diesem Hintergrund ist nicht verständlich, warum die Krankenkassen bzw. die Landesverbände der Krankenkassen bislang keine einheitlichen Qualitätsstandards für die Ausbildung von Blindenführhunden entwickelt und Verträge mit denjenigen Leistungserbringern geschlossen haben, die diese Qualitätsstandards erfüllen. Angesichts dessen kommt hier der Vorschrift des § 33 Satz 2 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB I) besondere Bedeutung zu, wonach bei der Ausgestaltung von Rechten den Wünschen des Berechtigten entsprochen werden soll, soweit sie angemessen sind. Hier hat sich die Klägerin für die Blindenführhundeschule Dr. S. G. entschieden und dabei vor allem die Qualität der dortigen Hundeausbildung berücksichtigt. Dies ist nicht zu beanstanden. Die Leistungserbringerin Dr. S. G. unterwirft sich freiwillig der Qualitätskontrolle des Deutschen Vereins für Blindenführhunde und Mobilitätshilfen e.V. Stuttgart (DVBM). Es handelt sich zwar um eine privatrechtliche Vereinigung ohne unmittelbaren Bezug zum Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Gleichwohl sind deren Prüfergebnisse durchaus im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen. Insoweit mangelt es - wie ausgeführt - an von Krankenkassen bzw. Landesverbänden von Krankenkassen entwickelten Qualitätsstandards mit entsprechenden Zulassungen von Leistungserbringern und Qualitätskontrollen. Darüber hinaus existiert - soweit ersichtlich - keine weitere vergleichbare Institution. Solange dieser Zustand besteht, sind blinde Versicherte bei der Wahl der Führhundeschule ihres Vertrauens grundsätzlich berechtigt, auf die Qualitätskriterien und die Prüfergebnisse des DVBM abzustellen. Nach den Veröffentlichungen des DVBM auf seiner Internetseite (www.dvbm.de) sind bislang fünf Führhundeschulen in folgenden Punkten geprüft worden: 1. mehr als fünf erfolgreiche Prüfungen, 2. regelmäßige Prüfungen, 3. auf Anhieb bestandene Prüfungen ) 80 Prozent, 4. Junghundtraining und 5. Wirtschaftsprüfertestat. Die Führhundeschule Dr. S. G. hat als einzige alle genannten Prüfkriterien erfüllt. Bereits dies rechtfertigt die Wahl der Klägerin. Sie hat im übrigen nachvollziehbar und von der Beklagten unwidersprochen auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen: Die Ausbildung eines Führhundes bei der Führhundeschule Dr. S. G. dauert etwa ein Jahr, die Ausbildung bei der von der Beklagten angebotenen Führhundeschule B. dagegen lediglich sechs bis neun Monate. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Ausbildungszeit einen unterschiedlichen Umfang hat (412 Stunden Dr. G., 360 Stunden B.). Zum anderen werden den auszubildenden Hunden von der Führhundeschule Dr. G. Regenerationszeiten zwischen den Ausbildungsphasen eingeräumt. Weiter beruht die dortige Ausbildung auf dem Prinzip "Lob" und nicht auf dem Prinzip " Strafe". Dies alles führt zu einer größeren Solidität der Ausbildung und lässt eine größere Verlässlichkeit des Hundes erwarten. Dies spiegelt sich auch in den Gewährleistungszeiten wieder. Während die Führhundeschule Dr. S. G. eine Gewährleistung für die Dauer von sechs Monaten im Rahmen des Grundpreises übernimmt, schließt die Führhundeschule B. eine Gewährleistung nach erfolgter Abnahme vollständig aus. Wird letztlich berücksichtigt, dass die Klägerin bereits einmal durch die Beklagte mit einem untauglichen Hund (allerdings von einem anderen Anbieter) versorgt worden ist, was ihre erhöhte Sensibilität bei der Auswahl der Führhundeschule verständlich macht, so steht in der Gesamtschau für die Kammer fest, dass sich die Klägerin beanstandungsfrei für einen Blindenführhund der Führhundeschule Dr. S. G. entschieden und die Beklagte die hierfür anfallenden Kosten im Rahmen notwendiger und wirtschaftlicher Hilfsmittelversorgung zu übernehmen hat. Soweit die Beklagte demgegenüber geltend gemacht hat, das Leistungsspektrum der Führhundeschule B. entspreche in etwa dem der Schule Dr. G., gebietet dies keine andere Sicht der Dinge. Allein aus einer Vergleichbarkeit des Leistungsspektrums ergibt sich nicht auch eine Vergleichbarkeit des Qualitätsniveaus. Mit welchen Qualitätsstandards Hunde von der Führhundeschule B. ausgebildet werden, bleibt unklar. Entsprechende verlässliche Informationen sind nicht greifbar. Insbesondere gehört die Führhundeschule B. nicht zu den von dem DVBM überprüften Schulen. Die Klägerin muss sich deshalb nicht auf einen Führhund dieser Schule verweisen lassen.

Nach alledem hat die Beklagte die Kosten nicht nur in Höhe der bereits angebotenen 17.900,50 EUR, sondern darüber hinaus in Höhe von weiteren 6.305,50 EUR, mithin insgesamt in Höhe von 24.206,00 EUR zu übernehmen. Der Klage war stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

3.7 Blindenführhund - erneute Prüfung der Erforderlichtkeit bei Ersatzbeschaffung

BSG 3. Senat Urteil vom 20. November 1996, Az: 3 RK 5/96

Nr: KSRE065420918

SGB 5 § 2 Abs 2, SGB 5 § 12 Abs 1, SGB 5 § 33 Abs 1 S 1, SGB 10 § 31, SGB 10 § 39 Abs 1, SGB 10 § 41 Abs 1, SGB 5 § 13 Abs 1, SGB 5 § 13 Abs 3, SGB 5 § 33 Abs 1 S 2, SGG § 99 Abs 3 Nr 3

Umfang der Bindungswirkung bei Bewilligung von sozialrechtlichen Leistungen (hier: Blindenführhund als Hilfsmittel) - Fehlen - Erforderlichkeit und Geeignetheit - Klageänderung - Notwendigkeit - Ersatzbeschaffung

Leitsatz

1. Zum Umfang der Bindungswirkung bei der Bewilligung sozialrechtlicher Leistungen (hier: Blindenführhund als Hilfsmittel).

2. Zur fehlenden Erforderlichkeit und Geeignetheit eines Hilfsmittels.

Orientierungssatz

1. Es liegt keine Klageänderung iS von § 99 Abs 3 Nr 3 SGG vor, wenn anstelle des zunächst geltend gemachten Sachleistungsanspruchs auf Ausstattung mit einem Blindenhund nach Klageerhebung aufgrund des Erwerbs des Blindenhundes und dessen Aushändigung ein Kostenerstattungsanspruch getreten ist.

2. Eine Ersatzbeschaffung (iS von § 33 Abs 1 S 2 SGB 5 ist nicht schon deshalb "notwendig", weil das zur Verfügung gestellte Hilfsmittel nicht mehr funktionstüchtig ist. Notwendig ist eine Ersatzbeschaffung nur, wenn beim Ausfall des zur Verfügung gestellten Hilfsmittels zusätzlich nach Maßgabe von S 1 des § 33 Abs 1 SGB 5 ein Anspruch auf Ausstattung mit diesem Hilfsmittel besteht, dieses also ua erforderlich iS von S 1 ist. Dabei gilt auch für die Ersatzbeschaffung das Wirtschaftlichkeitsgebot.

Fundstellen

Diese Entscheidung wird zitiert von SGb 1999, 497-501, Riederle, Georg (Entscheidungsbesprechung)

Verfahrensgang

vorgehend SG Lübeck 12. April 1994 S 7 Kr 89/92
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht 23. Januar 1996 L 1 Kr 60/94

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse (KK) Kostenerstattung in Höhe von DM 29.000,-- für die Stellung und bisherige Ausbildung eines Blindenführhundes als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung (KV) nach § 33 Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch (SGB V).

Der im Jahre 1943 geborene Kläger ist seit seiner Geburt sehbehindert. Die KK hatte die wegen Blindheit iS des Gesetzes beantragte Ausstattung mit einem Blindenführhund zunächst abgelehnt, weil ein solcher wegen des Restsehvermögens nicht erforderlich sei, hatte sich aber auf den Widerspruch des Klägers im August 1990 bereit erklärt, "die Kosten eines Blindenführhundes wie beantragt zu übernehmen" (Bescheid vom 15. August 1990). Im Oktober 1990 erhielt der Kläger von der Blindenführhundschule RG die - amtstierärztlich als gesund beurteilte - Schäferhündin Maja als Blindenführhund, mit der er zunächst sehr zufrieden war.

Im Mai 1991 beantragte der Kläger einen neuen Blindenführhund; die Hündin Maja sei von Anfang an nicht gesund gewesen, mache einen verängstigten Eindruck und genüge nicht den Führaufgaben. Die Beklagte lehnte die Gewährung eines neuen Blindenführhundes als Hilfsmittel ab, da sich der Kläger wegen seines Restsehvermögens nicht der Führung durch den Hund anvertraue und auch sonst nicht über die persönlichen Voraussetzungen zum Halten eines Blindenführhundes verfüge (Bescheide vom 2. Dezember 1991 - und 16. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 1992).

Der Kläger hat nach Klageerhebung am 18. September 1992 einen Vertrag mit der beigeladenen Blindenführhundschule P (P) über Kauf sowie Ausbildung eines neuen Blindenführhundes geschlossen und "seinen Kostenerstattungsanspruch" gegen die KK an die Beigeladene abgetreten. Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweisaufnahme die Klage auf Verurteilung der Beklagten, "die Kosten für Ausbildung und Stellung eines Führhundes seitens der Blinden- und Führhundschule P zu tragen bzw zu erstatten," abgewiesen (Urteil vom 12. April 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiterer Beweisaufnahme die Berufung des Klägers mit dem Antrag, die Beklagte zu verurteilen, "die Kosten für die Stellung und bisherige Ausbildung des Blindenführhundes S. in Höhe von DM 29.000,00" an die beigeladene Führhundschule P zu zahlen, zurückgewiesen (Urteil vom 23. Januar 1996).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe den Bewilligungsbescheid zu Unrecht dahin ausgelegt, daß dieser nur über die Versorgung des Klägers mit dem Blindenführhund Maja entschieden habe und daß der Bescheid insbesondere nicht im Sinne einer verbindlichen Regelung die Feststellung enthalte, daß der Kläger einen Anspruch auf Ausstattung mit einem Blindenhund habe. Soweit das LSG einen Anspruch aus § 33 SGB V mit der Begründung verneint hat, eine Ersatzbeschaffung sei nicht erforderlich, weil der Kläger noch über ein ausreichendes Restsehvermögen verfüge, rügt die Revision Verletzung des § 33 SGB V und außerdem fehlerhafte Beweiswürdigung hinsichtlich des Gutachtens der Sachverständigen T sowie Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz wegen Nichteinholung eines weiteren Gutachtens trotz Ungeeignetheit der Sachverständigen T.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 23. Januar 1996 und des Sozialgerichts Lübeck vom 12. April 1994 sowie den Bescheid vom 16. Dezember 1991 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Stellung und bisherige Ausbildung des Blindenführhundes "S." in Höhe von DM 29.000,-- an die Beigeladene zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Entscheidungsgründe

Die Revision war zurückzuweisen.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 16. Dezember 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 1992. Die Beklagte hatte zwar die Kostenübernahme für einen neuen Blindenführhund bereits in einem Bescheid vom 2. Dezember 1991 formlos ohne Rechtsmittelbelehrung abgelehnt. Der Kläger bat daraufhin um einen "rechtsmittelfähigen Bescheid". Der dann mit Rechtsmittelbelehrung ergangene erneute Ablehnungsbescheid vom 16. Dezember 1991 enthält unter diesen Umständen die stillschweigende Rücknahme des Bescheides vom 2. Dezember 1991. Es kann deshalb dahinstehen, ob der Widerspruch gegen den Bescheid vom 16. Dezember zugleich als Widerspruch gegen den Bescheid vom 2. Dezember ausgelegt werden kann.

2. Der Kläger ist im Berufungsverfahren von der Klage auf Ausstattung mit einem Führhund zur Klage auf Zahlung von DM 29.000,00 an die Beigeladene übergegangen. Darin liegt nach § 99 Abs 3 Nr 3 SGG keine Klageänderung. Denn es wird iS dieser Vorschrift statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt. Der zunächst geltend gemachte Sachleistungsanspruch (§ 2 Abs 2 Satz 1 SGB V) auf Ausstattung mit einem Blindenhund ist nach Klageerhebung aufgrund des Erwerbs des Blindenhundes S. und dessen Aushändigung an den Kläger erloschen. An die Stelle des Sachleistungsanspruchs ist nach Maßgabe des § 13 SGB V ein Kostenerstattungsanspruch getreten, den der Kläger nunmehr geltend macht. Auch zu den einschlägigen Vorschriften der zuvor geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO) war von der Rechtsprechung anerkannt, daß sich der Sachleistungsanspruch, wenn sich der Versicherte die abgelehnte Leistung selbst beschafft, in einen Kostenerstattungsanspruch umwandeln kann (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 2 mwN). War die geltend gemachte Umwandlung nach Klageerhebung eingetreten, so wurde eine entsprechende Änderung des Klageantrags im Ergebnis stets als zulässig angesehen (vgl zB BSG Urteil vom 23. Oktober 1984 - 8 RK 43/84 - ErsK 1985, 172). Die Abtretung des Erstattungsanspruchs an die Beigeladene ist eine weitere Veränderung iS des § 99 SGG, der vor dem LSG mit dem Antrag auf Zahlung an die Beigeladene Rechnung getragen wurde. In seinem Revisionsantrag hat der Kläger zwar im Wortlaut die Beschränkung auf "Zahlung an die Beigeladene" nicht wiederholt. Gleichwohl bedarf es nicht der Entscheidung, ob in einem Revisionsantrag wiederum auf Zahlung an den Kläger eine weitere und diesmal unzulässige Änderung des Klageantrags liegen würde. Denn auch der Revisionsantrag ist bei interessegemäßer Auslegung auf Zahlung an die Beigeladene gerichtet.

Daß die nach Klageerhebung (7. Mai 1992) am 18. September 1992 erfolgte Abtretung als solche ansonsten keinen Einfluß auf den Prozeß hat, folgt - wie das LSG bereits zutreffend ausgeführt hat - aus den §§ 202 SGG iVm § 265 Abs 2 Satz 1 Zivilprozeßordnung (ZPO). Da die Zessionarin notwendig beigeladen worden und das Urteil daher auch ihr gegenüber wirksam ist (§ 75 Abs 2 SGG), kann dem Kläger auch nicht entgegengehalten werden, er sei zur Geltendmachung des Anspruchs nicht mehr befugt (§ 265 Abs 3 ZPO). Vielmehr besitzt der Kläger eine Prozeßstandschaft kraft Gesetzes.

3. Beide Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen. Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nach § 13 SGB V setzt ua voraus, daß zunächst ein Sachleistungsanspruch bestand, der sich in einen Kostenerstattungsanspruch umgewandelt haben kann (BSGE 73, 271, 276 = SozR 3-2500 § 13 Nr 4; BSG SozR 3-2200 § 182 Nr 15; BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 2; BSGE 63, 102, 103 = SozR 2200 § 368e Nr 11). Da dem Kläger kein Sachleistungsanspruch zustand, kann er mit der Beschaffung des Blindenhundes S. keinen Kostenerstattungsanspruch erworben haben. Maßgebend für die Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt, in dem sich der Versicherte im Jahre 1993 die Leistung selbst verschafft hat (BSGE 73, 271, 276 = SozR 3-2500 § 13 Nr 4). Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel iS des Rechts der KV, was bereits zu § 182b RVO aF entschieden wurde (BSGE 51, 206, 207 = SozR 2200 § 182b Nr 19) und zwischen den Beteiligten unstreitig ist. Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 ausgeschlossen sind; nach Satz 2 umfaßt der Anspruch auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln sowie die Ausbildung in ihrem Gebrauch. Eine Ersatzbeschaffung war in diesem Sinne nicht schon deshalb "notwendig", weil das zur Verfügung gestellte Hilfsmittel nicht mehr funktionstüchtig war, wie dies hier der Fall ist. Das Tatbestandsmerkmal "notwendige Ersatzbeschaffung" erfordert zwar den Ausfall des zur Verfügung gestellten Hilfsmittels, geht aber darüber noch hinaus. Notwendig ist eine Ersatzbeschaffung nur, wenn beim Ausfall des zur Verfügung gestellten Hilfsmittels zusätzlich nach Maßgabe von Satz 1 des § 33 Abs 1 SGB V ein Anspruch auf Ausstattung mit diesem Hilfsmittel besteht, dieses also ua erforderlich iS von Satz 1 ist. Der in § 12 Abs 1 Satz 2 SGB V vorangestellte Grundsatz, daß Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, vom Versicherten nicht beansprucht werden können und von den KKn nicht bewilligt werden dürfen, gilt auch für die Ersatzbeschaffung, worauf schon das LSG zutreffend hingewiesen hat. Die amtliche Begründung zu § 33 Abs 1 Satz 2 SGB V, zum Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln gehöre auch die individuelle Anpassung des Hilfsmittels und die Versorgung mit dem dazu individuell nötigen Zubehör (BT-Drucks 11/2237 S 174), bestätigt, daß die Voraussetzungen von Satz 1 auch für Satz 2 gelten. Sie gibt keinen Hinweis darauf, daß für eine Ersatzbeschaffung die Voraussetzungen des § 12 Abs 1 Satz 2 und des § 33 Abs 1 Satz 1 nicht gelten sollen. Wenn nach § 33 Abs 1 SGB V das Hilfsmittel "erforderlich" und die Ersatzbeschaffung "notwendig" sein muß, dann werden diese Begriffe letztlich inhaltsgleich gebraucht (Knittel in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, Kommentar, SGB V, Stand Januar 1996, § 33 RdNr 23). Es steht dem Gesetzgeber zwar insoweit frei, für die Ersatzbeschaffung an die Entscheidungsgrundlagen der früheren Erstbewilligung anzuknüpfen, ähnlich wie das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) ab dem 7. Änderungsgesetz (7. AFG-ÄndG) für die Höhe des Unterhaltsgeldes (Uhg) hinsichtlich des Bemessungsentgelts an Entscheidungsgrundlagen einer früheren Alg-Bewilligung anknüpft, die damit unabhängig davon gelten, ob sie von der Bindungswirkung der Bewilligung umfaßt werden (vgl hierzu BSG SozR 3-4100 § 44 Nr 7 unter Hinweis auf BSG SozR 4100 § 112 Nr 23). Da der Gesetzgeber von dieser Möglichkeit in § 33 SGB V aber keinen Gebrauch gemacht hat, sind die Leistungsvoraussetzungen auch für eine Ersatzbeschaffung in vollem Umfang zu prüfen.

4. Hierzu hat das LSG zu Recht entschieden, daß der Führhund S. als Hilfsmittel bei seinem Erwerb weder erforderlich noch geeignet war. Dabei hat das LSG zutreffend seine Prüfung auf den vom Kläger beschafften Führhund S. bezogen, da der Kläger den Leistungsanspruch auf diesen Hund konkretisiert hat. Der Prüfung, ob S. als Hilfsmittel geeignet und erforderlich war, steht nicht entgegen, daß die KK in bindenden Bescheiden den Sachleistungsanspruch bezogen auf den früher zur Verfügung gestellten Hund Maja bejaht hatte. Laut diesem Bewilligungsbescheid war die KK bereit, "die Kosten eines Blindenführhundes wie beantragt zu übernehmen". Die KK hatte, wie im Bescheid mitgeteilt, die Ausbildungsstätte für Blindenführhunde RG gebeten, mit dem Kläger ein geeignetes Tier auszuwählen und dieses auszubilden. Das LSG führt dazu aus, damit sei die KK keine weitere Verpflichtung als die Versorgung des Klägers mit dem Blindenführhund Maja eingegangen, und zwar abschließend und lediglich ergänzt um die Beschaffung über die Ausbildungsstätte RG. Über die im Gesetz vorgesehene Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln (§ 33 Abs 1 SGB V) sei keine Entscheidung erfolgt. Die eingegangene Verpflichtung sei erfüllt worden. Einer Korrektur durch Rücknahme, Aufhebung oder Widerruf habe es daher nicht bedurft.

Den hiergegen erhobenen Revisionsangriffen hält die Entscheidung des LSG stand. Die Revision meint, der Bescheid habe nicht die Versorgung mit einem bestimmten, sondern mit "einem" Blindenführhund gewährt, so daß nach dem Ausfall der Hündin Maja wegen ihrer Allergien von der Wirkung des Bescheides zwangsläufig (auch) die Ersatzbeschaffung eines Blindenhundes mit eingeschlossen gewesen sei. Denn es habe sich bei dem Bescheid um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gehandelt, der sich nicht in der einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes Rechtsverhältnis begründet und für eine "gewisse Zeitdauer" gestaltet habe. Der Bescheid umfasse mit den Kosten für Futter und tierärztliche Behandlung auch wiederkehrende Leistungen. Ein derartiger Verwaltungsakt bleibe nach § 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) bis zu seiner Korrektur - Rücknahme, Widerruf, Aufhebung, Erledigung durch Zeitablauf oder auf andere Weise - wirksam. Hier sei nur eine Rücknahme nach § 48 SGB X in Betracht gekommen, aber nicht erfolgt, so daß der Bescheid weiterhin seine Dauerwirkung entfalte, die auch die Ersatzbeschaffung umfasse.

Der Revision ist zwar zuzugeben, daß der Bewilligungsbescheid Maja nicht namentlich nennt und auch nicht benennen konnte, weil bei Erlaß des Bewilligungsbescheides der Blindenführhund Maja noch nicht ausgewählt war. Aus diesem Grunde kann sich der Bewilligungsbescheid nicht von vornherein auf Maja bezogen haben. Bewilligt wurde vielmehr ein bei RG auszuwählender Hund, also nicht allgemein die Ausstattung mit "einem" Hund. Jedenfalls in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte das Hilfsmittel abnimmt und als Erfüllung seines Sachleistungsanspruchs anerkennt, konkretisiert sich ein solcher Bewilligungsbescheid auf die abgenommene Leistung, hier auf Maja.

Die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes beschränkt sich auf die getroffene Regelung und damit auf den Verfügungssatz, wobei ein Verwaltungsakt auch mehrere Regelungen und damit mehrere Verfügungssätze enthalten kann. Insoweit kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, daß der Bewilligungsbescheid nicht nur die Kostenübernahme für den bei RG noch auszuwählenden Hund regelt, sondern auch die Futterkosten und etwaige Tierarztkosten, und daß er insoweit ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist (vgl zur Definition BSGE 56, 165, 170 ff = SozR 1300 § 45 Nr 6 sowie Wiesner in Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, 3. Aufl 1996, § 48 RdNr 3). Denn die Übernahme der Futter- und Tierarztkosten bezog sich ebenfalls nur auf den noch auszuwählenden Hund. Im Bescheidwortlaut deutet nichts darauf hin, daß auch eine Ersatzbeschaffung geregelt werden sollte.

Der Bescheid über die Bewilligung des bei RG noch auszuwählenden Hundes enthält allerdings zu seiner Begründung die allgemeine Feststellung, daß "ein" Blindenführhund zum Ausgleich der Sehbehinderung des Klägers erforderlich ist. Diese Feststellung gehört sogar zu den tragenden Gründen der getroffenen Bewilligung. Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten erfaßt jedoch in aller Regel nicht auch die dergestalt den Verfügungssatz tragenden Gründe (BSGE 46, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 29 mwN). Der dem entsprechende Grundsatz, daß die Bewilligung einer Sach- oder Geldleistung regelmäßig nur den Leistungsgegenstand erfaßt, bei Geldleistungen also den Zahlbetrag, und nicht Sätze der Begründung, bei Geldleistungen also insbesondere nicht die Berechnungselemente, die die Endsumme tragen, gilt allerdings nur mit zahlreichen Einschränkungen. Diese greifen jedoch im vorliegenden Fall nicht ein.

Eine solche Einschränkung kann sich zum einen aus dem Verbot der Nachholung der Begründung nach Klageerhebung (§ 41 SGB X) ergeben. Diese Einschränkung kann indes nur eingreifen, soweit es um die Bindungswirkung des angefochtenen Verwaltungsaktes geht, was hier nicht der Fall ist. Betroffen sind die Fragen, ob ein eingreifender Verwaltungsakt, etwa eine Rückforderung, auf eine andere Rechtsgrundlage gestellt werden kann oder ob im Falle der Bewilligung einer zu niedrigen Geldleistung die Anerkennung der Leistungspflicht dem Grunde nach die Behörde und folgerichtig dann auch das Gericht daran hindert, der Klage auf eine höhere Leistung entgegenzuhalten, daß der Anspruch dem Grunde nach nicht bestehe. Hier ist indes die Bindungswirkung eines anderen als des angefochtenen Verwaltungsaktes streitig.

Zum anderen kann einem Satz der Begründung eines Verwaltungsaktes nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht eine solche Bedeutung zukommen, daß er unter Berücksichtigung der Interessen der Beteiligten als selbständige Feststellung im Sinne eines (weiteren) Verfügungssatzes zu werten ist (BSGE 66, 168, 173 = SozR 3-2400 § 7 Nr 1). Diese Einschränkung gilt sowohl in Ansehung des angefochtenen Verwaltungsaktes als auch in Ansehung eines früheren Verwaltungsaktes, hier der früheren Bewilligung von Maja. Insoweit wird eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß nur die Leistungsbewilligung selbst und nicht ihre Begründung bindet, insbesondere zu der einer jeden Leistungsbewilligung zugrundeliegenden Feststellung erörtert, daß der Anspruch dem Grunde nach besteht. Begehrt etwa der Bescheidempfänger eine höhere oder weitergehende Leistung, so wird die Frage, ob in der Festsetzung einer zu niedrigen Leistung auch hinsichtlich des streitigen Erhöhungsbetrages die verbindliche Feststellung liegt, daß der Anspruch dem Grunde nach besteht, nach dem Maßstab des jeweils anzuwendenden materiellen Rechts beantwortet (BSGE 66, 168, 174 = SozR 3-2400 § 7 Nr 1). Stellt zB der Unfallversicherungsträger die Erhöhung der Unfallrente wegen Arbeitslosigkeit nach § 587 RVO zu niedrig fest, so ist der Erhöhungsbetrag dem Grunde nach damit anerkannt und vom Gericht im Höhenstreit nicht zu überprüfen (BSG SozR 2200 § 587 Nr 7).

Der Grundsatz, daß ein Leistungsbewilligungsbescheid die Behörde nur hinsichtlich der bewilligten Leistung bindet, wird im Recht der Unfallversicherung, der Rentenversicherung und im Entschädigungsrecht in vielerlei Hinsicht durchbrochen. So wurde zB der Bescheid des Unfallversicherungsträgers, daß eine Unfallentschädigung abgelehnt werde, weil der entschädigungspflichtige Arbeitsunfall zu keiner meßbaren Minderung der Erwerbsfähigkeit geführt habe, im Sinne der weiteren bindenden Feststellung verstanden, daß ein Arbeitsunfall anerkannt werde (SozR 1500 § 77 Nr 18), während die (nicht vom Rentenausschuß vorzunehmende) Bewilligung des Sterbegeldes wegen eines Arbeitsunfalls keine für die Witwenrente bindende Anerkennung des Arbeitsunfalls enthält (BSG SozR 2200 § 589 Nr 8). Der Rentenbescheid stellt nicht nur den Rentenzahlbetrag verbindlich fest, sondern zB auch die Rentenart oder in der Unfallversicherung den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). In der Kriegsopferentschädigung werden im Bescheid über die Festsetzung des Berufsschadensausgleichs auch die Feststellungen zum "Einstufungsgerüst" als weitere Verfügungssätze bindend (BSGE 39, 14, 16 = SozR 3640 § 4 Nr 1; 62, 1, 2 = SozR 3100 § 30 Nr 69), insbesondere die Prognose, welchen Beruf der Beschädigte ohne die Schädigung ausüben würde (BSG SozR 1300 § 45 Nr 49).

Dabei gilt außerhalb der genannten Einschränkungen auch für diese Gebiete der Grundsatz, daß bei Geldleistungen nur der Zahlbetrag, nicht aber die Berechnungsfaktoren bindend festgestellt werden. So trifft der Rentenbescheid zu den berücksichtigten Versicherungszeiten keine bindende Feststellung (BSG SozR 3-1500 § 77 Nr 1). Die Bindungswirkung des endgültig Rente bewilligenden Bescheides (§ 204 AVG iVm § 1631 Abs 1 RVO) eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung erstreckt sich also lediglich auf die Entscheidung über Art, Höhe und Dauer der Rente, hingegen nicht auf die für die Höhe der Rente bedeutsamen Berechnungselemente (BSG SozR 1200 § 42 Nr 4; BSG SozR 2200 § 1276 Nr 11 mwN). Der Bescheid über die Witwenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) enthält keine isolierte Feststellung zur Einkommensanrechnung (BSG Urteil vom 15. August 1996 9 RV 22/95 für BSGE und SozR vorgesehen). Der Rentenversicherungsträger bindet sich durch die Zubilligung einer Zeitrente für anschließende Zeitabschnitte nicht an die Beurteilung, daß ohne Änderung der Verhältnisse weiterhin Erwerbsunfähigkeit (EU) oder Berufsunfähigkeit (BU) vorliegt (hierzu BSG SozR 2200 § 1276 Nr 11 in Abgrenzung von BSG SozR 2200 § 1276 Nr 5 und BSGE 53, 100 = SozR 2200 § 1276 Nr 6; vgl auch BSGE 41, 168, 171 = SozR 2200 § 1259 Nr 15).

Demgegenüber hat die Rechtsprechung zum AFG und zur KV weit strenger an dem Grundsatz festgehalten, daß sich die Bindungswirkung des Bescheides auf die bewilligte Leistung beschränkt und die Verpflichtung des Gerichts, den streitigen Anspruch unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen, weder durch die Bindungswirkung einzelner Sätze der Begründung noch durch ein Verbot des Auswechselns der Gründe eingeschränkt wird. Daher ist bei der Klage auf höheres Alg wegen Berücksichtigung eines höheren Bemessungsentgelts hinsichtlich des Unterschiedsbetrages zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines Alg-Anspruchs dem Grunde nach vorliegen, insbesondere ob die Anwartschaftszeit des § 104 AFG erfüllt ist (BSGE 66, 168, 175 = SozR 3-2400 § 7 Nr 1). Wird die Aufhebung einer Alhi-Bewilligung wegen grob fahrlässiger Verletzung der Mitteilungspflicht nur für den letzten Teil des Bezugszeitraums angefochten, so ist die grobe Fahrlässigkeit, obgleich die Aufhebung für den ersten Teil der Bezugszeit bindend wurde, für den zweiten Teil der Bezugszeit erneut zu prüfen (BSG Urteil vom 23. September 1996, 7 RAr 14/96, für BSGE und SozR vorgesehen).

Im Recht der KV wurde die Bindungswirkung von Bescheiden über Sach- und Geldleistungen stets besonders einschränkend gesehen und regelmäßig auf die im Bescheid umschriebene Leistung begrenzt, mit deren Erbringung sich der Bescheid durch Erfüllung erledigt. Das gilt insbesondere für die Bewilligung von Krankengeld. Vor Geltung des SGB X war die Krankengeldgewährung als sog Schalterakt nach der Rechtsprechung des BSG überhaupt keiner Bindungswirkung fähig. Die Definition des Verwaltungsakts in § 31 SGB X läßt unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 8/2034 Seite 33) eine schlichte Leistungsgewährung nur im Bereich der Sozialhilfe zu und sieht in der Krankengeldgewährung einen (schlüssigen) Verwaltungsakt (BSG SozR 2200 § 182 Nr 103). Das Krankengeld wird indes regelmäßig nur für die Vergangenheit bewilligt, so daß eine Ablehnung des Krankengeldes für die Folgezeit keiner Aufhebung einer auf unbestimmte Zeit erfolgten Bewilligung bedarf (BSG SozR 2200 § 182 Nr 103). Vor allem hat die KK über Krankengeld bei Beginn einer neuen "Blockfrist" ohne Bindungen an frühere Bewilligungen und selbst Verurteilungen der Verwaltung neu zu entscheiden, und zwar auch dann, wenn sich der Krankheitszustand des Versicherten nicht geändert hat (BSG SozR 2200 § 183 Nr 51). Wird eine kieferorthopädische Behandlung bewilligt, so wird die Behandlung nicht "als solche" bewilligt, sondern durch einen bestimmten, in das System der Leistungserbringung einbezogenen Zahnarzt; verzichtet dieser auf seine Zulassung, erbringt aber gleichwohl die bewilligte Leistung, so kann aus der Bewilligung kein Kostenerstattungsanspruch abgeleitet werden (BSG SozR 3-2500 § 29 Nr 3).

Bei der vom LSG erörterten Einweisung in ein Krankenhaus geht es nicht um die Abgrenzung des Verfügungssatzes von der Begründung, sondern um die Fragen, ob die Einweisung überhaupt ein Verwaltungsakt ist und ob die Einweisung, wenn sie ein Verwaltungsakt wäre, nicht unter einem gesetzlichen Widerrufsvorbehalt steht. Ob die Einweisung in ein Krankenhaus (BSG SozR 2200 § 183 Nr 51) und die Kostenzusage der KK (BSG SozR 3-2500 § 39 Nr 3) gegenüber dem Versicherten kein Verwaltungsakt ist und nur einen Vertrauenstatbestand schafft, der durch Erklärung gegenüber dem Versicherten jederzeit beseitigt werden kann (BSG SozR 3-2500 § 39 Nr 3), braucht der Senat deshalb hier nicht zu entscheiden. Nach der Rechtsprechung des BSG steht auch die Einweisung und Aufnahme in ein Krankenhaus, wenn sie als Verwaltungsakt im Verhältnis zum Versicherten ergeht, unter dem (stillschweigenden) gesetzlichen Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs aufgrund neuer Erkenntnisse der KK und schafft jedenfalls keine Bindungswirkung für zukünftige Zeiten (BSGE 63, 107 = BSG SozR 1300 § 47 Nr 2). Bei der Krankenbehandlung kann auch im wohlverstandenem Interesse des Versicherten für die Zukunft an einer Leistungsbewilligung nicht festgehalten werden, wenn bei unverändertem Sachverhalt nach neuer Erkenntnis die Behandlung medizinisch nicht (mehr) indiziert und damit möglicherweise gesundheitsgefährdend ist. Das gilt vorrangig für ärztliche Maßnahmen, etwa eine bewilligte Operation, aber auch für verordnete Medikamente. Ob dies auch für Hilfsmittel gilt, so daß die KK selbst die Bewilligung von Maja jederzeit hätte widerrufen können, bedarf hier keiner Entscheidung. Aus der angeführten Rechtsprechung kann jedenfalls gegen eine Beschränkung der Leistungsbewilligung auf Maja nichts hergeleitet werden. Es würde vielmehr dieser Rechtsprechung widersprechen, im Bereich der KV gerade für die Versorgung mit einem Hilfsmittel die Bindungswirkung auf Anspruchselemente zu erstrecken.

Damit hat sich der Bewilligungsbescheid hinsichtlich der Ausstattung mit dem auszuwählenden Hund zumindest in dem Zeitpunkt erledigt, in dem der Kläger nach der Feststellung des LSG seine Zufriedenheit mit Maja bekundete und damit Maja als eine bescheidgemäße Leistung abnahm. Ob M. objektiv gesehen schon zu diesem Zeitpunkt ungeeignet war, wie dies der Kläger behauptet, kann dahinstehen. Wird die Ungeeignetheit eines Hilfsmittels erst nach der Abnahme bemerkt, dann ist für die Ersatzbeschaffung ein Neuantrag zu stellen, wie dies der Kläger auch erkannt hat.

5. Das LSG hat aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts zu Recht entschieden, daß S. als Hilfsmittel weder erforderlich noch geeignet ist. Der Kläger nimmt, wie vom LSG festgestellt, die Hilfe des Hundes im normalen Tagesablauf so weitgehend nicht in Anspruch, daß er den Hund "verdirbt", da er sich dem Hund nicht im erforderlichen Umfang anvertraut. Die Sachverständige T hat nur selten den Eindruck gehabt, daß sich der Kläger führen ließ. Aufgrund des mangelnden Anvertrauens war es auch bei S. bereits zu einer Leistungsminderung gekommen. Schon diese Feststellungen ergeben, daß S. als Hilfsmittel nicht geeignet und nicht erforderlich ist. Es kann daher dahinstehen, ob der Kläger die weiteren Feststellungen des LSG zum Restsehvermögen, auf die das LSG seine Entscheidung vorrangig gestützt hat, mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffen hat, also unter Darlegung der Tatsachen, die den Verfahrensmangel ergeben sollen, und unter Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Das LSG hat zum Restsehvermögen festgestellt, daß der Kläger in der Lage sei, dieses so optimal einzusetzen, daß er sich ohne Blindenhilfsmittel fortbewegen könne. Die Sachverständige T habe beobachtet, daß der Kläger das Haus seiner Schwiegereltern mit zwei vollgefüllten Plastiktüten verlassen habe, ohne den Führhund oder ein anderes Blindenhilfsmittel in Anspruch zu nehmen. Die insoweit erhobenen Verfahrensrügen greifen jedenfalls hinsichtlich der Feststellung, daß der Hund nur selten in Anspruch genommen und dadurch verdorben werde, nicht durch. Die Revisionsrüge, das LSG habe bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt, daß der Kläger weiterhin als Blinder anerkannt sei, geht fehl. Für die Feststellung, daß der Kläger sich weitgehend bewegen kann, ohne den Hund oder ein anderes Blindenhilfsmittel zu benutzen, ist es unerheblich, ob diese Fähigkeit des Klägers mehr auf einem außergewöhnlich guten Erinnerungsvermögen an räumliche Gegebenheiten beruht oder auf einem Restsehvermögen, das größer ist, als zunächst angenommen. Im übrigen enthält die Bewilligung des Hundes Maja - wie ausgeführt - keine selbständige Anerkennung eines Anspruchs auf "einen" Hund, und die Anerkennung als "blind" nach dem Schwerbehindertengesetz besagt nichts dazu, ob sich der Kläger dem Hund anvertraut.

Desgleichen greift die Rüge nicht durch, das LSG habe übersehen, daß der Kläger in fremder Umgebung auf den Hund angewiesen sei. Auch in diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob die Fähigkeit des Klägers, sich weitgehend ohne Hund zu bewegen, mehr auf einem außergewöhnlich guten Erinnerungsvermögen an räumliche Gegebenheiten beruht oder auf einem Restsehvermögen, das größer ist, als zunächst angenommen. Selbst wenn die Fähigkeit des Klägers, sich im normalen Alltag weitgehend selbständig zu bewegen, ohne die Hilfe des mitgeführten Hundes wirklich in Anspruch zu nehmen, auf seinem Erinnerungsvermögen beruht, so folgt hieraus nur, daß der Kläger in ungewohnter Umgebung auf ein Blindenhilfsmittel angewiesen ist, ändert aber nichts daran, daß von S. eine solche nur gelegentliche Hilfe von Anfang an nicht erwartet werden konnte, was sich später bestätigt hat. Auch die Rüge, das LSG habe bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt, daß der Kläger die Ausbildung mit dem neuen Blindenführhund infolge der unberechtigten Leistungsablehnung nicht abgeschlossen habe, ist unbegründet. Der Umstand, daß der Kläger sich weitgehend bewegen kann, ohne den Hund oder ein anderes Blindenhilfsmittel zu benutzen, und daß der Hund dies merkt, besteht unabhängig von einer Ausbildung des Klägers. Im übrigen kann sich der Kläger auf seine fehlende Ausbildung in diesem Zusammenhang auch deshalb nicht berufen, weil er im Zeitpunkt der Begutachtung durch T schon durch den Sachverständigen R auf die Bedeutung des Anvertrauens hingewiesen worden war. Die Angriffe gegen Qualifikation und Eignung der Sachverständigen T enthalten keine zulässige Verfahrensrüge. Die Sachverständige T war als Diplom-Biologin (mit Schwerpunkt Verhaltenskunde), Blindenführhundausbilderin, Blindenmobilitätstrainerin und Gespannprüferin qualifiziert, aus den Verhaltensweisen und Fehlverhaltensweisen des Klägers "im Gespann" mit einem Blindenhund die Fähigkeit des Klägers einzuschätzen, Hindernisse selbst zu erkennen, weshalb zu diesen Punkt auch kein neues Sachverständigengutachten einzuholen war. Die Rüge, die Sachverständige habe zur artgerechten Haltung des Hundes auch den Freilauf ohne Leine gerechnet, obwohl es nach der Verordnung über die Haltung der Hunde im Freien verboten sei, einen Hund im Freien ohne Leine laufen zu lassen, und der darin liegende Vorwurf ungenügender Rechtskenntnisse der Sachverständigen lassen deren Fähigkeit, ein ausreichendes Anvertrauen zu beobachten und zu bewerten, unberührt. Die Rüge, die Beteiligten hätten eine andere Gutachterin vorgeschlagen, worauf das LSG ohne Begründung nicht eingegangen sei, läßt schon die nach Auffassung des Klägers verletzte Rechtsnorm nicht erkennen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

3.8 Braillezeile - Positives Urteil SG Leipzig vom 22. April 2004

SG Leipzig Urteil vom 22. April 2004, Az: S 13 KR 92/01

Braillezeile

Leitsatz

I. Die Bescheide der Beklagten vom 13.09.2000 und 13.10.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.04.2001 werden aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Lesegerät des Klägers mit einer Braillezeile aufzurüsten.

3.9 Braillezeile - negatives Urteil des LSG Rheinlandpfalz vom 26.8.2004

Braillezeile

Leitsatz

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 09.03.2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

3.10 Braillezeile - negatives Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 03.03.2005

Nr: KSRE079621717

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz 5. Senat Urteil vom 3. März 2005, Az: L 5 KR 117/04

SGB 5 § 12 Abs 1, SGB 5 § 33 Abs 1 S 1

Krankenversicherung - kein Anspruch auf Braillezeile als zusätzliches Hilfsmittel zu einem Sprech-Lesegerät

Leitsatz

Eine Blinde, die mit einem Sprech-Lesegerät versorgt ist, hat keinen Anspruch auf zusätzliche Versorgung mit einer Braillezeile als Hilfsmittel, weil diese nach gegenwärtigem Kenntnisstand keine wesentlichen zusätzlichen Vorteile für die Befriedigung des allgemeinen Informationsbedürfnisses des behinderten Menschen bietet.

Weitere Fundstellen

SGb 2005, 284 (Leitsatz)

Verfahrensgang

vorgehend SG Speyer 25. Mai 2004 S 3 KR 481/02 Urteil

Tatbestand

Umstritten ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin mit einer Braillezeile zu versorgen.

Die 1967 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin, die im November 2003 eine Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste an einer Spezialbibliothek begonnen hat, ist seit ihrem 13. Lebensjahr vollständig erblindet. Mit Schreiben vom 19.3.2002 beantragte sie unter Bezugnahme auf eine Verordnung von Dr K bei der Beklagten die Übernahme der Kosten eines elektronischen Vorlesesystems sowie einer Braillezeile der Marke "Universal Reader Compact und Braillex Tiny" gemäß Kostenvoranschlag der Firma P GmbH bei Kosten von netto 4.330 EUR für das Vorlesesystem und 5.100 EUR für die Braillezeile.

Mit Bescheid vom 26.6.2002 bewilligte die Beklagte der Klägerin einen Zuschuss von 2.400 EUR für das Vorlesesystem, das dieser am 20.11.2002 ausgeliefert wurde. Durch weiteren Bescheid vom gleichen Tag lehnte die Beklagte eine Versorgung mit einer Braillezeile ab, da mit einer solchen das Maß des Notwendigen überschritten werde. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 2.10.2002 zurückgewiesen.

Am 29.10.2002 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat geltend gemacht, dass zur Erfüllung ihres privaten Informations- und Kommunikationsbedarfs die Ausstattung mit einer Braillezeile erforderlich sei. Es komme ihr darauf an, ihre private Post mit der Braillezeile selbst zu erledigen, insbesondere Kontoauszüge, Beipackzettel und Rechnungen zu lesen. Sie habe Englisch studiert und interessiere sich deshalb auch für englischsprachige Literatur, die mit dem Vorlesesystem allein nicht nutzbar sei.

Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten nach Aktenlage von Dipl-Psych S von der Deutschen Blindenstudienanstalt eV M vom September 2003 erstatten lassen. Dieser hat die nach seiner Ansicht bestehenden Vorteile einer Braillezeile gegenüber einem Vorlesesystem im Einzelnen dargestellt. Die Firma P hat dem SG das aktualisierte Angebot übersandt.

Durch Urteil vom 25.5.2004 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin die Braillezeile "Braillex EL 40s" einschließlich der Braillesteuerung "Jaws" zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Gewährung der Braillezeile als Hilfsmittel nach § 33 Abs 1 Satz 1 des Fünften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB V) seien erfüllt. Diese befriedige das Grundbedürfnis der Klägerin auf (umfassende) Information. Deren Informationsbedürfnis sei in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen, sodass die bloße Verweisung auf Rundfunk und Audiotheken nicht zulässig sei. Zu einem selbstbestimmten Leben gehöre auch die Information im persönlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe. Dabei gehe es ua um Zeitungslektüre und die Kenntnisnahme von Telefonnummern, Telefonrechnungen, Arzneibeipackzetteln, Formularen usw (Hinweis auf BSG, 16.4.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Mit dem vorhandenen Vorlesesystem werde diesem Informationsbedürfnis nicht hinreichend Rechnung getragen, wie aus dem eingeholten Gutachten hervorgehe. Wie der Sachverständige dargelegt habe, seien die Probleme der Spaltenerkennung und -interpretation (zB hinsichtlich Inhaltsverzeichnissen, Texten mit Marginalien und Tabellen) durch ein Vorlesesystem bisher nicht gelöst. Auch Schriftgut mit Zahlen, Abkürzungen, Bildern und Fachbegriffen könne nur mit einer Braillezeile in sinnvoller Weise erkannt werden. Das Vorlesesystem "Universal Reader Compact" vermöge einzelne fremdsprachige Wörter nicht zu erkennen. Von der Beklagten sei nicht geltend gemacht worden, dass das der Klägerin zur Verfügung gestellte Vorlesesystem so ausgereift und technisch vervollkommnet sei, dass Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt und eine Braillezeile insoweit überflüssig geworden sei (Hinweis auf BSG, 21.11.2002, B 3 KR 4/02 R). Insbesondere habe diese nicht vorgetragen, dass der Sachverständige nicht den aktuellen technischen Stand der Vorlesegeräte berücksichtigt habe bzw dass seit Oktober 2003 technische Verbesserungen bei Vorlesesystemen eingetreten seien und die Klägerin mit einem solchen neuartigen Gerät ausgestattet sei. Die Kammer erachte daher die Vernehmung des von der Beklagten zum Termin zur mündlichen Verhandlung mitgebrachten Stefan D (Hersteller von Blindenlesegeräten) für entbehrlich.

Gegen dieses ihr am 26.7.2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 10.8.2004 beim Landessozialgericht Rheinland-Pfalz eingelegte Berufung der Beklagten.

In dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 3.2.2005 hat der Medizinprodukteberater bei der Firma D GmbH M ein mitgebrachtes Vorlesesystem vorgeführt und als Zeuge ua ausgesagt, soweit die Sprachwiedergabe Fehler enthalte oder schwer verständlich sei, träten diese Fehler auch bei einer Ausgabe mit der Braillezeile auf. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 3.3.2005 hat der Sachverständige S vorgegebene Texte (Tabellen uÄ) mit Hilfe einer Braillezeile vorgelesen; der Zeuge M hat dieselben Texte mit dem Vorlesesystem vorgeführt.

Die Beklagte trägt vor: Hilfsmittel, die dazu dienten, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere auf beruflichem und wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bereich der Freizeitgestaltung, zu beseitigen oder zu mildern, müsse der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zur Verfügung zu stellen. Die streitgegenständliche Braillezeile sei nicht zur Versorgung im Rahmen eines Grundbedürfnisses erforderlich und damit auch nicht iSd § 12 Abs 1 SGB V notwendig. Durch das vorhandene Vorlesesystem sei die Klägerin ausreichend versorgt. In diesem sei ua eine sog Zeitungsvorlesefunktion integriert. Das "Lesen" an sich stelle kein elementares Grundbedürfnis dar, das die gesetzliche Krankenversicherung sicherzustellen habe.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Speyer vom 25.5.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die nach §§ 143 f, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist begründet. Entgegen der angefochtenen Entscheidung des SG hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit einer Braillezeile.

Wie das BSG entschieden hat (16.4.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26; 21.11.2002, B 3 KR 4/02 R), ist eine Braillezeile von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur Verfügung zu stellen, die über einen häuslichen PC nebst Lese-Sprech-Gerät verfügen und diesen selbst bedienen können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit Hilfe der Braillezeile "lesen" möchten, die von einem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Das Lesen der Tageszeitung ist elementarer Bestandteil des allgemeinen Grundbedürfnisses "Information"; aber auch das selbstständige Erfassen von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen oder Prospekten gehört zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurecht finden zu können (BSG, 21.11.2002, aaO). Dem BSG zufolge (aaO) kann ein Versorgungsanspruch nur dann abgelehnt werden, wenn 1) ein im Umgang mit einem PC vertrauter Versicherter Schriftstücke und Texte der genannten Art auf Grund seiner persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse nicht oder nur in sehr geringem Umfang "lesen" möchte, was bei der Klägerin nicht der Fall ist oder wenn 2) auf Grund des zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-Geräte, insbesondere das der Klägerin zur Verfügung stehende Gerät, so ausgereift und technisch vervollkommnet sind, dass die früher (vgl BSG, 16.4.1998 und 21.11.2002, aaO) noch zu verzeichnenden Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt worden und dadurch Braillezeilen insoweit überflüssig geworden sind.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 26.8.2004 (L 5 KR 59/04) entschieden, dass die Braillezeile im Verhältnis zum Sprech-Lesegerät keine wesentlichen Vorteile bietet. Dies haben die eingehenden Ermittlungen des Senats im vorliegenden Verfahren bestätigt. Der Senat gründet seine Überzeugung auf die Vorführungen des Sprech-Lesegeräts und der Braillezeile am 3.2. und 3.3.2005 sowie die Angaben des Zeugen M. Bei einem Vergleich beider Geräte zeigte sich, dass ein Vorteil der Braillezeile gegenüber dem Sprech-Lesegerät nicht zu verifizieren war; dies entspricht auch den Darlegungen des Zeugen M. Bei der Braillezeile bestehen ähnliche und nicht geringere Schwierigkeiten als bei dem Sprech-Lesegerät, komplizierte Texte, zB Tabellen, Rechnungen, Kontoauszüge oÄ, zu erfassen, was auf dem Erkennen der Texte, nicht aber auf der Wiedergabe beruht. Durch diese Erkenntnisse aus eigener Anschauung des Senats ist die Auffassung des Sachverständigen S in dessen schriftlichem Gutachten widerlegt. Dies schließt es nicht aus, dass Braillezeilen zukünftig so vervollkommnet werden, dass die Sachlage anders zu beurteilen sein wird. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand vermag der Senat jedoch die Notwendigkeit einer Braillezeile, zusätzlich zu dem Sprech-Lesegerät, nicht zu bejahen.

Ob die Braillezeile fremdsprachige Literatur zu "lesen" vermag, brauchte nicht geprüft zu werden, da solche Lesevorgänge nicht zur Versorgung des Grundbedürfnisses auf Information erforderlich sind. Dass die Braillezeile hinsichtlich des Lesens von Tageszeitungen wesentliche zusätzliche Möglichkeiten einräumt, ist nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 SGG nicht vorliegen.

3.11 Braillezeile - positives Urteil des BSG vom 16. April 1998

Nr: KSRE071811518

BSG 3. Senat Urteil vom 16. April 1998, Az: B 3 KR 6/97 R

SGB 5 § 33 Abs 1, SGB 5 § 12 Abs 1

Krankenversicherung - Blinder - Hilfsmitteleigenschaft - zusätzliche Braillezeile zum Lese-Sprechgerät

Leitsatz

1. Zur Hilfsmitteleigenschaft einer zusätzlichen Braillezeile, wenn der blinde Versicherte bereits mit einem Lese-Sprechgerät versorgt ist.

Fundstellen
Diese Entscheidung wird zitiert von

Behindertenrecht 1999, 5-6, Demmel, Herbert (Entscheidungsbesprechung)

Verfahrensgang

vorgehend SG Duisburg 21. März 1997 S 9 Kr 21/95

Tatbestand

Der 1942 geborene und bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger ist blind. Er lebt mit seiner nicht berufstätigen Ehefrau sowie drei schulpflichtigen Kindern zusammen und arbeitet als Leiter einer Einrichtung für die Behindertenintegration. An seinem Arbeitsplatz hat er einen Computer mit einer sog Braillezeile zur Verfügung. Dabei handelt es sich um ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird, die der Blinde ertasten kann. Die Kosten dafür belaufen sich je nach Ausführung, insbesondere Breite, auf DM 16.000 (Info-Braille 44) bis DM 28.000 (Info-Braille 84).

Im August 1994 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Kostenübernahme für ein sog Lese-Sprechgerät mit Braillezeile zum privaten Gebrauch, das in einer beigefügten ärztlichen Bescheinigung als "nützlich" bezeichnet wurde. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 24. August 1994 und Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1995).

Im Klageverfahren hat sich die Beklagte bereit erklärt, die Kosten einer behindertengerechten Aufrüstung des privaten Personalcomputers (PC) des Klägers zum Lese-Sprechgerät (mit Scanner, Sprachausgabe und entsprechender Spezialsoftware) gemäß einem Kostenvoranschlag (DM 9.200.-) zu übernehmen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis der Beklagten angenommen und mit der Klage nur noch die Kostenübernahme für die Braillezeile weiterverfolgt.

Durch Urteil vom 21. März 1997 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Es hat gemeint, mit dem Lese-Sprechgerät sei der Kläger ausreichend versorgt. Es gebe keinen Anspruch auf eine optimale, auf dem neuesten Stand der Technik befindliche Hilfsmittelversorgung, die lediglich Komfortbedürfnissen diene.

Mit der Sprungrevision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), da für ihn auch die Braillezeile erforderlich und kein bloßer Komfort sei. Die bereits gelieferte PC-Aufrüstung zum Lese-Sprechgerät mache erhebliche Schwierigkeiten bei allen Texten, die nicht zeilenweise von links nach rechts zu lesen, sondern in irgendeiner Weise unregelmäßig gedruckt seien. Unmöglich sei das Erfassen von Schriftstücken, die Tabellen, Zahlenreihen usw enthielten, wie zB Kontoauszüge, Formulare, Telefonrechnungen. Auch bei der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) sei die Notwendigkeit einer Braillezeile anerkannt worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 21. März 1997 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 24. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1995 zu verurteilen, die Kosten einer Ausstattung seines Lese-Sprechgerätes mit einer Braillezeile des Typs "Info-Braille 84", hilfsweise "Info-Braille 44", zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf die Versorgung mit einer Braillezeile des Typs "Info-Braille 44".

Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I, 2477) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1.Alternative) oder eine Behinderung auszugleichen (2.Alternative), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 SGB V idF des Gesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2266) ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, und sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die KKn nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 SGB V).

Die Braillezeile ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes Gerät weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand noch nach § 34 SGB V ausgeschlossen. Der Verpflichtung des Versicherten zur Übernahme der anteiligen Kosten eines Gebrauchsgegenstandes ist dadurch Rechnung getragen, daß der Kläger bereits bei der Aufrüstung seines PC zum Lese-Sprechgerät nur die Zusatzkosten geltend gemacht hat (vgl zum Ganzen BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ).

Die Braillezeile ist grundsätzlich ein erforderliches Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung iS der 2. Alternative des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Ob der Begriff der Sehhilfe in dieser Vorschrift nur Hilfsmittel erfaßt, die- wie zB eine Brille - das Restsehvermögen verstärken und nicht auch solche, die- wie die Braillezeile - die Körperfunktion (teilweise) ersetzen, kann offenbleiben. Die Braillezeile ist jedenfalls ein sonstiges Hilfsmittel, da der Hilfsmittelbegriff iS der 2. Alternative als Ausgleich der Behinderung auch den ersetzenden Ausgleich umfaßt (BSG aaO mwN). Unschädlich ist auch, daß die Braillezeile nicht unmittelbar am behinderten Körperteil (Augen) ausgleichend "ansetzt", sondern den Ausgleich auf anderem Wege- über den Tastsinn der Finger - bewirkt, weil dies nach der Rechtsprechung nur dann zum Ausschluß der Hilfsmitteleigenschaft führt, wenn der Ausgleich ausschließlich oder nahezu ausschließlich auf beruflichem, gesellschaftlichem oder dem Gebiet der Freizeitbetätigung erfolgt (vgl zu einer elektrischen Schreibmaschine bei einer Phokomelie der oberen Gliedmaßen: BSG SozR 2200 § 187 Nr 1 und zu einer Blindenschrift- Schreibmaschine: BSG SozR 2200 § 182b Nr 5). Soweit ein diese Gebiete übergreifendes sog Grundbedürfnis betroffen ist, fällt auch der Ausgleich der Folgen der Behinderung auf den genannten Gebieten in die Leistungspflicht der KKn (BSG SozR 2200 § 182b Nr 10 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22 ). Die Braillezeile kann keinem der genannten Gebiete allein zugeordnet werden. Auch wenn sie vom Kläger nur im häuslichen Bereich benutzt werden soll, kommt sie auch dort für Druckschriften mit Bezug auf jedes der genannten Gebiete in Betracht. Das diese Gebiete übergreifende Grundbedürfnis des Klägers ist sein Bedürfnis auf (umfassende) Information. Davon ist auch das SG ausgegangen. Es hat allerdings zu Unrecht angenommen, daß dieses Bedürfnis bereits durch das Lese-Sprechgerät in ausreichendem Maße befriedigt werde.

Unter Fortführung der bisherigen Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ) ist daran festzuhalten, daß das Grundbedürfnis auf Information in engem Zusammenhang mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben steht. Die Information ist für Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Informationsbedarf und -möglichkeiten nehmen in der modernen Gesellschaft ständig und in steigendem Maße zu, wobei immer wieder neue qualitative Stufen erreicht werden (Beispiel: Internet). Diesem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen, so daß die bloße Verweisung eines Blinden auf Rundfunk und Audiotheken nicht zulässig ist. Auch die Information im persönlichen Lebensbereich auf einfachster Stufe gehört zu einem selbstbestimmten Leben. Von daher kommt es nicht darauf an, ob der Kläger mit der Braillezeile auch weitergehende Informationen qualifizierter Art erreichen will, wie etwa die Erschließung von Fachliteratur oder von Belletristik im allgemeinen, und ob ihm dies bereits mit der Lese-Sprech-Einrichtung, wenn auch teilweise mit Schwierigkeiten, ermöglicht wird. Denn es geht auch um schlichte Zeitungslektüre und die Kenntnisnahme von Telefonnummern, Telefonrechnungen, Arzneibeipackzetteln, Formularen usw, die mit der bereits vorhandenen Ausstattung praktisch nicht oder nur mit unzumutbarem Aufwand, wohl aber durch die Braille-Zeile möglich ist.

Nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. August 1994, BArbl 10/1994, 155, das die weitreichenden Erfahrungen der mit der Versorgung der Kriegsopfer befaßten Behörden wiedergibt, ist mit einem Lese-Sprechgerät schon das Zeitunglesen sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, da von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssen; ferner ist das Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen oder Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich, auch können die Geräte spezielle Druckarten- wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder Großdruck - nur schlecht oder gar nicht verarbeiten. Umgekehrt ist mit der Braillezeile das "Lesen" jedes beliebigen gedruckten oder maschinenschriftlichen Textes möglich (zB Briefe, Kontoauszüge, Telefonrechnungen, Formulare usw). Das Lesen der Tageszeitung ist zweifelsfrei elementarer Bestandteil des oben geschilderten Grundbedürfnisses "Information". Schon von daher ist die Versorgung mit einer Braillezeile, die dieses Bedürfnis ohne größere Probleme befriedigen kann, geboten. Aber auch die selbständige Erfassung von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen, Prospekten gehört zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurechtzufinden. Auf die Hilfe seiner Ehefrau kann der Kläger nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Ebensowenig kann allein der Kostenaufwand der Grund sein, ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigern.

Der Kläger konnte jedoch nur mit seinem Hilfsbegehren hinsichtlich der Braillezeile des Typs "Info-Braille 44", die lediglich das Lesen von halben Zeilen ermöglicht, obsiegen. Dies entspricht dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Denn der Kläger benötigt die Zusatzausrüstung seines PC in Einsatzbereichen, die weitgehend durch eine "halbzeilige Braillezeile" bearbeitet werden können. Dies gilt vor allem für das tägliche Zeitunglesen, bei dem die Verwendung einer "halbzeiligen" Braillezeile dem Kläger zumutbar ist. Die Tatsache, daß die "halbzeilige Braillezeile" in anderen Einsatzbereichen, die vom Kläger seltener genutzt werden, im Vergleich zum "vollzeiligen" Typ ein geringeres Maß an Benutzerfreundlichkeit aufweist, kann einen Anspruch auf die aufwendigere Ausstattung nicht begründen. § 33 SGB V vermittelt keinen Anspruch auf Versorgung mit einem optimalen Hilfsmitteltyp. Stehen für einen Behinderungsausgleich mehrere Gerätetypen zur Verfügung, so beschränkt sich die Leistungspflicht der KK grundsätzlich auf den preiswerteren Typ, soweit dieser funktionell geeignet ist. Das Anerkennen eines Grundbedürfnisses auf umfassende Information bedeutet keine vollständig mit den Möglichkeiten des Gesunden gleichziehende Information des blinden Versicherten; der Anspruch findet insbesondere seine Grenze dort, wo eine nur geringfügige Verbesserung eines auf breitem Feld anwendbaren Hilfsmittels völlig außer Verhältnis zur Belastung der Versichertengemeinschaft geraten würde. Insoweit hat die Rechtsprechung auf eine begründbare Relation zwischen Kosten und Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4 mwN; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18 ; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 20 ), insbesondere den zeitlichen Umfang der beabsichtigten Nutzung und die Bedeutung der jeweils erschließbaren- hier: zusätzlich erschließbaren - Informationen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 16 ), abgestellt. Angesichts der erheblichen Mehrkosten für ein "Info-Braille 84" gegenüber dem ebenfalls bereits kostspieligen kleineren Gerät ist der darin liegende geringfügige Gebrauchsvorteil nicht von der Solidargemeinschaft zu tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

3.12 Braillezeile - Frage nach technischem Fortschritt

Urteil des BSG vom 21. 11. 2002

Nr: KSRE073451517

BSG 3. Senat Urteil vom 21. November 2002, Az: B 3 KR 4/02 R

SGB 5 § 2 Abs 4, SGB 5 § 12 Abs 1, SGB 5 § 33 Abs 1 S 1

Krankenversicherung - Hilfsmittel - Lese-Sprech-Gerät - Braillezeile - Personalcomputer - Zusatzdisplay - Grundbedürfnis - deutsche Sprachkenntnisse - Verbesserung - Spätaussiedler

Orientierungssatz

Die Ausstattung eines bereits von der Krankenkasse gewährten Personalcomputers mit einer Braillezeile als Hilfe beim Erlernen der deutschen Rechtschreibung (hier Spätaussiedler), kann den Anspruch gegen die Krankenkasse nicht rechtfertigen. Die Braillezeile ist insoweit kein zum Behinderungsausgleich "notwendiges" Hilfsmittel (§ 2 Abs 4, § 12 Abs 1, § 33 Abs 1 SGB 5).

Fundstellen

RegNr 25997 (BSG-Intern)

Weitere Fundstellen
Verfahrensgang

vorgehend Sozialgericht für das Saarland 21. Februar 2001 S 1 KR 116/00 Urteil
vorgehend Landessozialgericht für das Saarland 21. November 2001 L 2 KR 8/01 Urteil

Tatbestand

Der 1977 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger ist blind. 1997 kam er als Spätaussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Er kann sich inzwischen auf Deutsch verständigen und Texte mit Hilfe der Brailleschrift "lesen", ist aber bestrebt, seine deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift, insbesondere auch in der Orthographie, zu vervollkommnen. Im Rahmen seiner berufsfördernden Grundausbildung hat er gelernt, mit einem Personalcomputer (PC) zu arbeiten.

Die Beklagte hat 1999 den privaten PC des Klägers mit einem Lese-Sprech-Gerät ausgestattet. Es handelt sich um das Vorlesegerät "Poet" mit Scanner, Sprachausgabe, Spezialtastatur und entsprechender Spezialsoftware (Wert 8.769,60 DM). Streitig ist, ob der PC zusätzlich mit einer so genannten Braillezeile auszurüsten ist. Dabei geht es um ein Zusatzdisplay, auf dem ein vom Computer per Scanner eingelesener Text in vibrierenden Blindenschriftzeichen wiedergegeben wird. Die Kosten belaufen sich nach dem eingeholten Kostenvoranschlag auf rund 15.000 DM (jetzt ca 7.500 EUR).

Den Antrag des Klägers, ihn mit diesem Zusatzdisplay zu versorgen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 27. Dezember 1999, Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2000). Sie vertritt die Auffassung, der Kläger sei mit dem bereitgestellten Lese-Sprech-Gerät ausreichend versorgt. Nach Angaben der Lieferfirma könnten damit auch Arzneibeipackzettel, Kontoauszüge und Telefonbücher verarbeitet werden. Soweit der Kläger geltend mache, mit dem Zusatzdisplay besser die deutsche Sprache erlernen zu können, falle dies nicht in die Zuständigkeit der Krankenversicherung.

Dagegen hat der Kläger Klage erhoben. Er meint, der Erwerb guter deutscher Sprachkenntnisse in Wort und Schrift gehöre bei Menschen, die auf Dauer in Deutschland leben, zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Daher sei die Krankenversicherung leistungspflichtig.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 21. Februar 2001). Es hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Kläger mit einer Braillezeile zum Vorlesegerät "Poet" zu versorgen, und sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezogen (Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 6/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Nur durch die Braillezeile werde das Grundbedürfnis des Klägers auf umfassende Information aus gedruckten Texten aller Art hinreichend ausgeglichen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. November 2001): Die begehrte Braillezeile unterfalle nur dann der Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn der behinderte Versicherte ohne das Zusatzdisplay nicht in der Lage sei, im Rahmen des allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke zu "lesen". Die Lieferfirma habe aber mitgeteilt, dass hierfür das bewilligte Lese-Sprech-Gerät ausreiche; nach Angaben des Arztes komme der Kläger mit ihm auch sehr gut zurecht. Da der Kläger das Zusatzdisplay vor allem benötige, um als volljähriger Spätaussiedler die deutsche Rechtschreibung zu erlernen oder zu verbessern, sei die Krankenversicherung nicht leistungspflichtig. Die Förderung der sozialen und kulturellen Integration von Spätaussiedlern sei Sache der Sozialhilfeträger, die nach den speziellen Vorgaben des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ein solches Zusatzdisplay im Rahmen der Eingliederungshilfe zur Verfügung stellen müssten.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 33 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Seinem Grundbedürfnis auf Information werde das Lese-Sprech-Gerät allein nicht hinreichend gerecht. Schon das Zeitunglesen sei sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, weil von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Gerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das "Lesen" von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen und Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich. Die Verbesserung der deutschen Sprachkenntnisse in Wort und Schrift sei ein zusätzlicher wesentlicher Aspekt; auch hierfür seien bei Spätaussiedlern die Krankenkassen zuständig, weil es um die Vermittlung elementarer Sprachkenntnisse und damit um ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens gehe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 21. November 2001 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 21. Februar 2001 zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das Gericht konnte über die Revision gemäß § 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach Lage der Akten entscheiden, weil die Beteiligten im Termin nicht vertreten waren und sie auf diese Möglichkeit in der Ladung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen worden waren (§§ 165, 153 Abs 1, 110 Abs 1 Satz 2 SGG).

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen des LSG lassen keine abschließende - positive oder negative - Entscheidung der Frage zu, ob die Beklagte dem Kläger die begehrte Braillezeile als Hilfsmittel der Krankenversicherung (§ 33 SGB V) zur Verfügung zu stellen hat.

Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF durch das Gesetz vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (1. Fall), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (2. Fall) oder eine Behinderung auszugleichen (3. Fall), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung müssen auch Hilfsmittel ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein, und sie dürfen das Maß des Notwendigen (Erforderlichen) nicht überschreiten; Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 SGB V). Die Braillezeile ist als auf den Gebrauch durch Blinde zugeschnittenes Gerät weder ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand noch nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen.

Allerdings kann der von den Beteiligten in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt, die Hilfe beim Erlernen der deutschen Rechtschreibung, den Anspruch auf Ausstattung mit der Braillezeile nicht rechtfertigen. Insoweit ist der Auffassung des LSG zuzustimmen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die hinreichende Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift, insbesondere die Rechtschreibung, bei Erwachsenen generell und bei erwachsenen Spätaussiedlern im Besonderen ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens darstellt, das von der Krankenversicherung durch entsprechende behindertengerechte Lernhilfen (Hilfsmittel) zu unterstützen ist. Der Anspruch ist schon deshalb unbegründet, weil es für das Erlernen der deutschen Sprache in Wort und Schrift bereits Schul- und Lesebücher in Brailleschrift gibt. Sie sind ggf im Wege der Eingliederungshilfe nach dem BSHG zu finanzieren. Die Braillezeile ist insoweit kein zum Behinderungsausgleich "notwendiges" Hilfsmittel (§§ 2 Abs 4, 12 Abs 1, 33 Abs 1 SGB V).

Dies schließt einen Erfolg der Klage aber nicht aus.

Der Senat hat bereits entschieden (Urteil vom 16. April 1998 - B 3 KR 6/97 R - SozR 3-2500 § 33 Nr 26), dass eine solche Braillezeile von den Krankenkassen als Behinderungsausgleich grundsätzlich allen blinden Versicherten zur Verfügung zu stellen ist, die über einen häuslichen PC nebst Lese-Sprech-Gerät verfügen und diesen selbst bedienen können, wenn sie zur Befriedigung ihres allgemeinen Grundbedürfnisses auf Information Schriftstücke und Texte mit Hilfe der Braillezeile "lesen" möchten, die von dem Lese-Sprech-Gerät nicht, unzulänglich oder nur mit unzumutbarem Aufwand erfasst und in verständliche Sprache umgesetzt werden können. Grundlage dieser Entscheidung war der technische Stand solcher Lese-Sprech-Geräte Mitte der 90er Jahre. Der Senat hat seinerzeit dazu ausgeführt, nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 9. August 1994 (BArbl 10/1994, 155), das die weit reichenden Erfahrungen der mit der Versorgung der Kriegsopfer befassten Behörden wiedergebe, sei mit einem Lese-Sprech-Gerät schon das Zeitunglesen sehr umständlich und nur mit einer Hilfsperson möglich, da von dieser die einzelnen Artikel vorher für das Lesegerät passgerecht gefaltet oder ausgeschnitten werden müssten. Ferner sei das Lesen von Arzneibeipackzetteln, Kontoauszügen oder Telefonbüchern nicht oder nur beschränkt möglich, auch könnten die Geräte spezielle Druckarten - wie Vielfarbdruck, Inversdruck oder Großdruck - nur schlecht oder gar nicht verarbeiten. Umgekehrt sei mit der Braillezeile das "Lesen" jedes beliebigen gedruckten oder maschinenschriftlichen Textes möglich (zB Briefe, Kontoauszüge, Telefonrechnungen, Formulare usw). Das Lesen der Tageszeitung sei elementarer Bestandteil des allgemeinen Grundbedürfnisses "Information". Schon von daher sei die Versorgung mit einer Braillezeile, die dieses Bedürfnis ohne größere Probleme befriedigen könne, geboten. Aber auch die selbstständige Erfassung von alltäglichen Schriftstücken wie Rechnungen, Kontoauszügen, Prospekten gehöre zu den Voraussetzungen, um sich im heutigen Leben zurecht zu finden. Auf die Hilfe von Familienangehörigen könne ein Betroffener nicht verwiesen werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 18). Ebenso wenig könne allein der Kostenaufwand der Grund sein, ein als notwendig erkanntes Hilfsmittel zu verweigern.

An dieser Entscheidung ist grundsätzlich festzuhalten. Hiernach könnte ein Versorgungsanspruch nur dann abgelehnt werden, wenn (1.) ein im Umgang mit einem PC vertrauter Versicherter Schriftstücke und Texte der genannten Art auf Grund seiner persönlichen Lebenseinstellung und Bedürfnisse nicht oder nur in sehr geringem Umfang "lesen" möchte - was beim Kläger nach den vorhandenen Feststellungen des LSG auszuschließen ist - oder wenn (2.) auf Grund des zwischenzeitlich eingetretenen technischen Fortschritts die heutzutage auf dem Markt befindlichen Lese-Sprech-Geräte, insbesondere das dem Kläger zur Verfügung gestellte Gerät, so ausgereift und technisch vervollkommnet sind, dass die Mitte der 90er Jahre noch zu verzeichnenden Schwächen ganz oder nahezu vollständig beseitigt worden und dadurch Braillezeilen insoweit überflüssig geworden sind.

Dazu fehlt es an hinreichenden Feststellungen des LSG. Insbesondere kann aus der Feststellung, der Kläger komme subjektiv mit dem vorhandenen Lese-Sprech-Gerät "gut zurecht", nicht geschlossen werden, dass die in der Entscheidung des Senats aus dem Jahre 1998 aufgezeigten Unzulänglichkeiten damals auf dem Markt erhältlicher Lese-Sprech-Geräte, die zur prinzipiellen Bejahung eines Anspruchs betroffener Versicherter auf eine zusätzliche Braillezeile geführt haben, infolge technischer Weiterentwicklung mittlerweile beseitigt sind, sodass vor allem fremde Hilfe bei der Lektüre von Zeitungen (und Zeitschriften) als Schwerpunkt der täglichen Informationsbeschaffung nicht mehr notwendig ist. Die weit gehende Unabhängigkeit behinderter Menschen von fremder Hilfe ist ein zentraler Aspekt der Hilfsmittelversorgung im Bereich des Behinderungsausgleichs (§ 33 SGB V, §§ 1, 2 Neuntes Buch Sozialgesetz ).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

3.13 Braillezeile - positives Urteil des SG Gießen vom 11. 12. 2002

SG Gießen Urteil vom 11.12.2002, Az: S-9/KR 759/02

Braillezeile

Leitsatz

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin neben dem bewilligten Lesesprechsystem zusätzlich mit einer 44-stelligen Braillezeile zu versorgen.

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